Samstag, 14. Juli 2018
Logische oder historische Darstellung?
Über zwanzig Druckseiten lang in den MEW hatte Marx das Verfahren der politischen Ökonomen kommentierend beschrieben; zwar kritisch dargestellt, aber doch ihr Verfahren dargestellt. Im Fortgang seiner Niederschrift, die offenbar zunächst unmittel- bar für den Druck bestimmt war, nehmen die Einwände jedoch überhand:
Wie überhaupt bei jeder historischen, sozialen Wissenschaft, ist bei dem Gange der ökonomischen Kategorien immer festzuhalten, daß, wie in der Wirklichkeit, so im Kopf, das Subjekt, hier die moderne bürgerliche Gesell- schaft, gegeben ist, und daß die Kategorien daher Daseinsformen, Existenzbestimmungen, oft nur einzelne Sei- ten dieser bestimmten Gesellschaft, dieses Subjekts, ausdrücken, und daß sie daher auch wissenschaftlich keines- wegs da erst anfängt, wo nun von ihr als solcher die Rede ist. Dies ist festzuhalten, weil es gleich über die Eintei- lung Entscheidendes zur Hand gibt.
Z.B. nichts scheint naturgemäßer, als mit der Grundrente zu beginne, dem Grundeigentum, da es an die Erde, die Quelle aller Produktion und allen Daseins, gebunden ist, und an die erste Produktionsform aller einigerma- ßen befestigten Gesellschaften - die Agrikultur. Aber nichts wäre falscher. In allen Gesellschaftsformen ist es eine bestimmte Produktion, die allen übrigen und deren Verhältnisse daher auch allen übrigen, Rang und Ein- fluß anweist. Es ist eine allgemeine Beleuchtung, worin alle übrigen Farben getaucht sind und [die] sie in ihrer Besonderheit modifiziert. Es ist ein besondrer Äther, der das spezifische Gewicht alles in ihm hervorstehenden Daseins bestimmt.
Z.B. bei Hirtenvölkern. (Bloße Jäger und Fischervölker liegen außer dem Punkt, wo die wirkliche Entwicklung beginnt) Bei ihnen kömmt gewisse Form des Ackerbaus vor, sporadische. Das Grundeigentum ist dadurch be- stimmt. Es ist gemeinsames und hält diese Form mehr oder minder bei, je nachdem, ob diese Völker mehr oder minder noch an ihrer Tradition festhalten, z.B. das Gemeindeeigentum der Slawen. Bei Völkern von fest- sitzendem Ackerbau - dies Festsitzen schon große Stufe -, wo dieser vorherrscht wie bei den Antiken und Feu- dalen, hat selbst die Industrie und ihre Organisation und die Formen des Eigentums, die ihr entsprechen, mehr oder minder grund-<638> eigentümlichen Charakter, ist entweder ganz von [ihm] abhängig wie bei den ältern Rö- mern oder, wie im Mittelalter, ahmt die Organisation des Landes in der Stadt und in ihren Verhältnissen nach. Das Kapital selbst im Mittelalter - soweit es nicht reines Geldkapital ist - als traditionelles Handwerkszeug etc. etc. hat diesen grundeigentümlichen Charakter.
In der bürgerlichen Gesellschaft ist es umgekehrt, Die Agrikultur wird mehr und mehr ein bloßer Industrie- zweig und ist ganz vom Kapital beherrscht. Ebenso die Grundrente. In allen Formen, worin das Grundeigen- tum herrscht, die Naturbeziehung noch vorherrschend. In denen, wo das Kapital herrscht, das gesellschaftlich, historisch geschaffne Element. Die Grundrente kann nicht verstanden werden ohne das Kapital. Das Kapital aber wohl ohne die Grundrente. Das Kapital ist die alles beherrschende ökonomische Macht der bürgerlichen Gesellschaft. Es muß Ausgangspunkt wie Endpunkt bilden und vor dem Grundeigentum entwickelt werden. Nachdem beide besonders betrachtet sind, muß ihre Wechselbeziehung betrachtet werden.
Es wäre also untubar und falsch, die ökonomischen Kategorien in der Folge aufeinander folgen zu lassen, in der sie historisch die bestimmenden waren. Vielmehr ist ihre Reihenfolge bestimmt durch die Beziehung, die sie in der modernen bürgerlichen Gesellschaft aufeinander haben, und die genau das umgekehrte von dem ist, was als ihre naturgemäße erscheint oder der Reihe der historischen Entwicklung entspricht. Es handelt sich nicht um das Verhältnis, das die ökonomischen Verhältnisse in der Aufeinanderfolge verschiedener Gesell- schaftsformen historisch einnehmen. Noch weniger um ihre Reihenfolge "in der Idee" (Proudhon) (einer ver- schwimmelten Vorstellung der historischen Bewegung). Sondern um ihre Gliederung innerhalb der modernen bürgerlichen Gesellschaft.
Die Reinheit (abstrakte Bestimmtheit), in der die Handelsvölker - Phönizier, Karthaginienser - in der alten Welt erschienen, ist eben durch das Vorherrschen der Agrikulturvölker selbst gegeben. Das Kapital als Handels- oder Geldkapital erscheint eben in dieser Abstraktion, wo das Kapital noch nicht das beherrschende Element der Gesellschaften ist. Lombarden, Juden nehmen dieselbe Stellung gegenüber den Agrikultur treibenden mit-telaltrigen Gesellschaften ein.
Als weitres Beispiel der verschiednen Stellung, die dieselben Kategorien in verschiednen Gesellschaftsstufen einnehmen: Eine der letzten Formen der bürgerlichen Gesellschaft: joint-stock-companies erscheinen aber auch <639> im Beginn derselben in den großen privilegierten und mit Monopol versehnen Handelskompanien.
Der Begriff des Nationalreichtums selbst schleicht sich bei den Ökonomen des 17. Jahrhunderts so ein - eine Vorstellung, die noch zum Teil bei denen des 18. fortgeht -, daß bloß für den Staat der Reichtum geschaffen wird, seine Macht aber im Verhältnis zu diesem Reichtum steht. Es war dies noch unbewußt heuchlerische Form, worin sich der Reichtum selbst und die Produktion desselben als Zweck der modernen Staaten ankün- digt und sie nur noch als Mittel zur Produktion des Reichtums betrachtet.
Die Einteilung offenbar so zu machen, daß 1. die allgemein abstrakten Bestimmungen, die daher mehr oder minder allen Gesellschaftsformen zukommen, aber im oben auseinandergesetzten Sinn. 2. die Kategorien, die die innre Gliederung der bürgerlichen Gesellschaft ausmachen und worauf die fundamentalen Klassen beruhn. Kapital, Lohnarbeit, Grundeigentum. Ihre Beziehung zueinander. Stadt und Land. Die drei großen gesellschaft- lichen Klassen. Austausch zwischen denselben. Zirkulation. Kreditwesen (privat). 3. Zusammenfassung der bürgerlichen Gesellschaft in der Form des Staats. In Beziehung zu sich selbst betrachtet. Die "unproduktiven" Klassen. Steuern. Staatsschuld. Öffentlicher Kredit. Die Bevölkerung. Die Kolonien. Auswanderung. 4. Inter- nationales Verhältnis der Produktion. Internationale Teilung der Arbeit. Internationaler Austausch. Aus- und Einfuhr. Wechselkurs. 5. Der Weltmarkt und die Krisen.
_____________________________________________________
aus Einleitung [zur Kritik der Politischen Ökonomie] in MEW 13, S. 637ff.
Nota. -Dass die logische Entwicklung der ökonomischen Kategorien und ihr Erscheinen in der historischen Wirklichkeit zwei paar Schuhe sind, wird ihm erst bei der Niederschrift klar; und dass er folglich nicht einfach die Gliederung übernehmen kann, wie sie bei den Politischen Ökonomen üblich ist. Er beabsichtigt zunächst wohl, beide Darstellungsweisen nebeneinander zu gebrauchen. Der letzte Absatz im obigen Text ist offenbar so etwas wie Marxens Erster Plan für das "ökonomische Buch", aus dem schließlich Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie werden sollte.
JE
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen