Dienstag, 27. November 2018

Die Physiokraten II: Ihre Widersprüche.

 
Daher die Widersprüche im System der Physiokratie. 

Es ist in der Tat das erste System, das die kapitalistische Produktion analysiert und die Bedingungen, innerhalb deren Kapital produziert wird und innerhalb deren das Kapital produziert, als ewige Naturgesetze der Produk- tion darstellt. Andrerseits erscheint es vielmehr als eine bürgerliche Reproduktion des Feudalsystems, der Herr- schaft des Grundeigentums; und die industriellen Sphären, innerhalb deren das Kapital sich zuerst selbständig entwickelt, erscheinen vielmehr als „unproduktive" Arbeitszweige, bloße Anhängsel der Agrikultur. 

Die erste Bedingung der Kapitalentwicklung ist die Trennung des Grundeigentums von der Arbeit, das selb- ständige Gegenübertreten der Erde - dieser Urbedingung der Arbeit - als selbständige Macht, in der Hand einer besondren Klasse befindliche Macht, gegenüber dem freien Arbeiter. In dieser Darstellung erscheint daher der Grundeigentümer als der eigentliche Kapitalist, das heißt der Aneigner der Surplusarbeit. Der Feudalismus wird so sub specie der bürgerlichen Produktion reproduziert und erklärt wie die Agrikultur als der Produktions- zweig, worin sich die kapitalistische Produktion - d.h. die Produktion des Mehrwerts - ausschließlich darstellt. Indem so der Feudalismus verbürgerlicht wird, erhält die bürgerliche Gesellschaft einen feudalen Schein. 

Dieser Schein täuschte die adligen Anhänger des Dr. Quesnay wie den schrullenhaft patriarchalischen alten Mirabeau. Bei den weiteren Köpfen des physiokratischen Systems, namentlich Turgot, verschwindet dieser Schein vollständig und stellt sich das physiokratische System als die innerhalb des Rahmens der feudalen Ge- sellschaft durchdringende neue kapitalistische Gesellschaft dar. Es entspricht dies also der bürgerlichen Gesell- schaft in der Epoche, worin sie aus dem Feudalwesen herausbricht. 

Der Ausgangspunkt ist daher in Frankreich, in einem vorherrschend ackerbauenden Land, nicht in England, einem vorherrschend industriellen, kommerziellen und seefahrenden Land. Hier ist natürlich der Blick auf die Zirkulation gerichtet, daß das Produkt erst als Ausdruck der allgemeinen gesellschaftlichen Arbeit - [als] Geld - Wert erhält, Ware wird. Soweit es sich / in der Gestalt daher nicht um die Form des Werts handelt, sondern um die Wertgröße und die Verwertung, liegt hier der profit upon expropriation, d.h. der von Steuart geschilderte rela- tive Profit zur Hand. 

Soll aber das Schaffen des Mehrwerts in der Produktionssphäre selbst nachgewiesen werden, so muß zunächst zum Arbeitszweig zurückgegangen werden, worin er sich unabhängig von der Zirkulation darstellt, zur Agri- kultur. Diese Initiative ist daher in einem Land vorherrschender Agrikultur geschehn. Den Physiokraten ver- wandte Ideen finden sich bruchweis bei ihnen vorhergehenden alten Schriftstellern, wie zum Teil in Frankreich selbst bei Boisguillebert. Bei ihnen erst werden sie epochemachendes System. 

Der Agrikulturarbeiter, auf das Minimum des Lohns angewiesen, das strict necessaire, reproduziert mehr als dies strict necessaire, und dies Mehr ist die Grundrente, der Mehrwert, der von den Eigentümern der Grund- bedingung der Arbeit, der Natur, angeeignet wird. Es wird also nicht gesagt: Der Arbeiter arbeitet über die für die Reproduktion seines Arbeitsvermögens notwendige Arbeitszeit hinaus; der Wert, den er schafft, ist daher größer als der Wert seines Arbeitsvermögens; oder die Arbeit, die er wiedergibt, ist größer als das Quantum Arbeit, das er in der Form des Salairs erhält; sondern: Die Summe der Gebrauchswerte, die er während der Produktion verzehrt, ist kleiner als die Summe der Gebrauchswerte, die er schafft, und so bleibt ein Surplus von Gebrauchswerten übrig. - 

Arbeitete er nur die Zeit, die zur Reproduktion seines eignen Arbeitsvermögens nötig, so bliebe nichts übrig. Aber es wird nur der Punkt festgehalten, daß die Produktivität der Erde ihn befähigt, in seiner Tagesarbeit, die als gegeben vorausgesetzt ist, mehr zu produzieren, als er zu konsumieren braucht, um fortzuexistieren. Dieser Surpluswert erscheint also als Gabe der Natur, durch deren Mitwirkung eine bestimmte Masse organischen Stoffs - Samen von Pflanzen, Anzahl Tiere - die Arbeit befähigt, mehr unorganischen Stoff in organischen zu verwandeln. 

Andrerseits ist es als selbstverständlich vorausgesetzt, daß der Grundeigentümer als Kapitalist dem Arbeiter gegenübertritt. Er zahlt ihm sein Arbeitsvermögen, das der Arbeiter ihm als Ware anbietet, und im Ersatz dafür erhält er nicht nur ein Äquivalent, sondern eignet sich die Verwertung dieses Arbeitsvermögens an. Die Entfrem- dung der gegenständlichen Bedingung der Arbeit und des Arbeitsvermögens selbst sind bei diesem Austausch vorausgesetzt. 

Vom feudalen Grundeigentümer wird ausgegangen, aber er tritt als Kapitalist auf, als bloßer Warenbesitzer, der die von / ihm gegen Arbeit ausgetauschten Waren verwertet, nicht nur ihr Äquivalent, sondern ein Surplus über dieses Äquivalent zurückerhält, weil er das Arbeitsvermögen nur als Ware zahlt. Als Warenbesitzer tritt er dem freien Arbeiter gegenüber. Oder dieser Grundeigentümer ist wesentlich Kapitalist. Auch in dieser Hinsicht die Wahrheit des physiokratischen Systems, als die Loslösung des Arbeiters von der Erde und vom Grundeigen- tum Grundbedingung für die kapitalistische Produktion und die Produktion des Kapitals ist. 

In demselben System daher die Widersprüche: daß ihm, das zuerst den Mehrwert aus der Aneignung fremder Arbeit erklärt und zwar letztre auf Grundlage des Warenaustauschs erklärt, der Wert überhaupt nicht eine Form der gesellschaftlichen Arbeit und der Mehrwert nicht Mehrarbeit ist, sondern der Wert bloßer Gebrauchswert, bloßer Stoff, und der Mehrwert bloße Gabe der Natur, die an die Stelle eines gegebnen Quantums organischen Stoffes ein größres Quantum der Arbeit zurückgibt. 

Einerseits ist die Grundrente - also die wirkliche ökonomische Form des Grundeigentums - von seiner feuda- len Hülle abgeschält, auf bloßen Mehrwert, über das Arbeitssalair [hinaus], reduziert. Andrerseits ist wieder feu- dalistisch dieser Mehrwert aus der Natur, nicht aus der Gesellschaft, aus dem Verhältnis zur Erde, nicht aus dem Verkehr abgeleitet. Der Wert selbst löst sich in bloßen Gebrauchswert, daher Stoff auf. 

Andrerseits interessiert an diesem Stoff bloß die Quantität, der Uberschuß der produzierten Gebrauchswerte über die konsumierten, also das bloß quantitative Verhältnis der Gebrauchswerte zueinander, der bloße Tausch- wert derselben, der sich schließlich in Arbeitszeit auflöst. Es sind dies alles Widersprüche der kapitalistischen Produktion, die sich aus der feudalen Gesellschaft herausarbeitet und letztere selbst nur mehr bürgerlich inter- pretiert, ihre eigentümliche Form aber noch nicht gefunden hat, wie etwa die Philosophie, die sich erst in der religiösen Form des Bewußtseins herauskonstruiert und damit einerseits die Religion als solche vernichtet, an- drerseits positiv [sich] selbst nur noch in dieser idealisierten, in Gedanken aufgelösten religiösen Sphäre bewegt. 

Daher auch in den Konsequenzen, die die Physiokraten selbst ziehn, die scheinbare Verherrlichung des Grund- eigentums in [dessen] ökonomische Verneinung und Bestätigung der kapitalistischen Produktion umschlägt. Einerseits werden alle Steuern auf die Grundrente verlegt, oder das Grundeigentum wird in andren Worten partialiter konfisziert, was die französische / Revolutionsgesetzgebung durchzuführen suchte und das Resultat der Ricardoschen ausgebildeten modernen Ökonomie ist. Indem die Steuer ganz auf die Grundrente gewälzt wird, weil sie der einzige Mehrwert ist - daher jede Besteurung andrer Einkommensformen nur auf einem Um- weg, daher nur auf ökonomisch schädlichem Wege, in einer die Produktion hemmenden Weise das Grundeigen- tum besteuert - wird die Steuer und damit alle Staatsintervention von der Industrie selbst entfernt und diese so von aller Staatsintervention befreit. 

Angeblich geschieht dies zum Besten des Grundeigentums, nicht im Interesse der Industrie, sondern des Grundeigentums. Damit zusammenhängend: Laissez faire, laissez aller; die ungehinderte freie Konkurrenz, Beseitigung aller Staatseinmischung, Monopole etc. von der Industrie. Da die Industrie nichts schafft, nur verwandelt in andre Form die ihr von der Agrikultur gegebnen Werte, denen sie keinen neuen Wert zusetzt, sondern als Äquivalent nur in andrer Form die ihr gelieferten Werte zurückgibt, so ist es natürlich wünschens- wert, daß dieser Verwandlungsprozeß ohne Störungen vor sich geht und in der wohlfeilsten Weise; und dies wird nur durch die freie Konkurrenz bewirkt, indem die kapitalistische Produktion sich selbst überlassen wird. 

Die Emanzipation der bürgerlichen Gesellschaft von der auf den Trümmern der Feudalgesellschaft errichteten absoluten Monarchie findet also nur im Interesse des in einen Kapitalisten verwandelten und auf bloße Bereich- rung bedachten feudalen Grundeigentümers statt. Die Kapitalisten sind nur Kapitalisten im Interesse des Grundeigentümers, ganz wie die weiter entwickelte Ökonomie sie nur Kapitalisten im Interesse der arbeitenden Klasse sein läßt. 

Man sieht also, wie wenig moderne Ökonomen, [wie] Herr Eugène Daire, der Herausgeber der Physiokraten samt seiner gekrönten Preisschrift über dieselben, die Physiokratie verstanden haben, wenn sie ihre spezifischen Sätze über die ausschließliche Produktivität der Agrikulturarbeit, über die Grundrente als den einzigen Mehr- wert, über die hervorragende Stellung der Grundeigentümer im System der Produktion, ohne Zusammenhang und nur zufällig zusammengebracht mit ihrer Proklamation der freien Konkurrenz, dem Prinzip der großen Industrie, der kapitalistischen Produktion finden. 

Man begreift zugleich, wie der feudale Schein dieses Systems, ganz wie der aristokratische Ton der Aufklärung, eine Masse von feudalen Herrn zu Schwärmern für ein System und Verbreitern eines Systems machen mußte, das wesentlich das bürgerliche Produktionssystem auf den Ruinen des feudalen proklamierte. 
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Theorien über den Mehrwert, MEW 26.1, Berlin (O) 1965, S. 20ff.



Nota. - Der entscheidende Schritt lag hinter ihm: In den Grundrissen hatte Marx den Unterschied zwischen dem Wert der Arbeitskraft und der Produktivkraft der lebendigen Arbeit bemerkt. Die Kritik der Politischen Öko- nomie war in der Sache abgeschlossen - nachdem er doch anfangs lediglich die Politische Ökonomie abschließen wollte! 

Ein bloßes dogmatisches Gegenmodell mit ausgiebigen ideologiekritischen Abschweifungen hätte den propa- gandistischen Befürfnissen der sich neu formierenden Arbeiterbewegung genügt, und das war es, was seine Parteigänger auf dem Kontinent sehnlichst von ihm erwarteten. Aber Marx war Wissenschaftler. Durch Ricardo war die Politische Ökonmie erst auf dem Punkt gebracht worden, sie als System darstellen zu können - ein System freilich, das auf einer Aporie beruhte: Unter der Voraussetzung des Wertgesetzes war der Mehr wert nicht zu erklären - und das Kapital nicht ökonomisch zu begründen. 

Es galt, zu den begrifflichen Voraussetzungen der ökonomischen Wissenschaften zurückzugehen und in concreto zu zeigen, wie die Begriffe nicht mehr ausreichen, um die beschriebenen Sachverhalte schlüssig  zu beschreiben. Ökonomische Theoriebildung ist der - mehr oder minder von jeweiligen Interessen tingierte - Widerschein ihrer Zeit. Sache der Kritik ist eben, den jeweiligen Erkenntnisfortschritt zu scheiden von seinen ideologischen Verbrämungen. Am Ende erwies sich die ideologische Barriere zugleich als die logische, oder die logische Barriere zugleich als absolute ideologische Barriere: der Begriff des Werts und das Dogma vom Wert- gesetz.

Bis dahin aber ist es theoretisch produktiver, die Ideengeschichte nicht als eine Kette von Irrtümern, sondern als eine Entwicklung in und durch Widersprüche aufzufassen. Die Gedanken werden schärfer und die Sachver- halte bleiben in ihrem Recht.
JE




Nota - Das obige Bild gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und ihre Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Ihre Nachricht auf diesem Blog. JE   

Sonntag, 25. November 2018

Die Physiokraten I.

Dr. Quesnay

Die Analyse des Kapitals, innerhalb des bürgerlichen Horizonts, gehört wesentlich den Physiokraten. Dies Verdienst ist es, das sie zu den eigentlichen Vätern der modernen Ökonomie macht. Erstens die Analyse der verschiednen gegenständlichen Bestandteile, in denen das Kapital während des Arbeitsprozesses existiert und sich auseinanderlegt. 

Den Physiokraten kann man nicht zum Vorwurf machen, daß sie, wie alle ihre Nachfolger, diese gegenständli- chen Daseinsweisen, wie Instrument, Rohstoff etc., getrennt von den gesellschaftlichen Bedingungen, worin sie in der kapitalistischen Produktion erscheinen, kurz, in der Form, worin sie Elemente des Arbeitsprozesses über- haupt sind, unabhängig von seiner gesellschaftlichen Form, als Kapital auffassen und damit die kapitalistische Form der Produktion zu einer ewigen Naturform derselben machen. Für sie erscheinen notwendig die bürger- lichen Formen der Produktion als die Naturformen derselben. Es war ihr großes Verdienst, daß sie diese For- men als physiologische Formen der Gesellschaft auffaßten: als aus der Naturnotwendigkeit der Produktion selbst hervorgehende Formen, die von Willen, Politik usw. unabhängig sind. Es sind materielle Gesetze; der Fehler nur, daß das materielle Gesetz einer bestimmten historischen Gesellschaftsstufe als abstraktes, alle Ge- sellschaftsformen gleichmäßig beherrschendes Gesetz aufgefaßt wird. 

Außer dieser Analyse der gegenständlichen Elemente, in denen das Kapital innerhalb des Arbeitsprozesses besteht, bestimmen die Physiokraten die Formen, die das Kapital in der Zirkulation annimmt (capital fixe, ca- pital circulant, wenn bei ihnen auch noch mit andren Namen), und überhaupt den Zusammenhang zwischen dem Zirkulationsprozeß und Reproduktionsprozeß des Kapitals. Darauf zurückzukommen im Kapitel über die Zirkulation. 

In diesen beiden Hauptpunkten hat A.Smith die Hinterlassenschaft der Physiokraten angetreten. Sein Verdienst - in dieser Beziehung - beschränkt sich auf Fixierung der abstrakten Kategorien, festere Taufnamen, die er den von den Physiokraten analysierten Unterschieden gibt. 

Grundlage für die Entwicklung der kapitalistischen Produktion ist, wie wir sahen, überhaupt, daß das Arbeitsver- mögen als die den Arbeitern angehörige Ware den Arbeitsbedingungen als im Kapital an sich festhaltenden und von ihnen unabhängig existierenden Waren gegenübertritt. Als Ware ist die Bestimmung des Werts des Arbeits- vermögens wesentlich. Dieser Wert ist gleich der Arbeitszeit, die erheischt ist, um die zur Reproduktion des Ar- beitsvermögens notwendigen Lebensmittel zu erzeugen, oder gleich dem Preis der zur Existenz des Arbeiters als Arbeiter notwendigen Lebensmittel. Nur auf dieser Grundlage tritt Differenz zwischen dem Wert und der Verwertung des Arbeitsvermögens ein, eine Differenz, die bei keiner andren Ware existiert, da der Gebrauchs- wert, also auch der Gebrauch keiner andren Ware, ihren Tauschwert oder die aus ihr resultierenden Tauschwerte erhöhen kann. 

Grundlage also für die moderne Ökonomie, deren Geschäft die Analyse der kapitalistischen Produktion ist, den Wert des Arbeitsvermögens als etwas Fixes, als gegebne Größe - was er auch praktisch in jedem bestimmten Fall ist - aufzufassen. Das Minimum des Salairs bildet daher richtig die Achse der physiokratischen Lehre. Diese Festsetzung war ihnen möglich, obgleich sie die Natur des Werts selbst noch nicht erkannt hatten, weil dieser Wert des Arbeitsvermögens sich in dem Preis der notwendigen Lebensmittel, daher in einer Summe bestimmter Gebrauchswerte darstellt. Ohne über die Natur des Werts überhaupt klar zu sein, konnten sie daher den Wert des Arbeitsvermögens, soweit es zu ihren Untersuchungen nötig war, als eine bestimmte Größe auffassen. Wenn sie ferner darin fehlten, daß sie dies Minimum als eine unveränder- liche Größe auffaßten, die bei ihnen ganz von der Natur bestimmt ist, nicht von der historischen Entwicklungsstufe, [die] selbst eine Bewegungen unterworfne Größe ist, so ändert dies an der abstrakten Richtigkeit ihrer Schlüsse nichts, da die Differenz zwischen dem Wert und der Verwertung / des Arbeitsvermögens durchaus nicht davon abhängt, ob man den Wert groß oder klein annimmt. 

Die Physiokraten haben die Untersuchung über den Ursprung des Mehrwerts aus der Sphäre der Zirkulation in die Sphäre der unmittelbaren Produktion selbst verlegt und damit die Grundlage zur Analyse der kapitalisti- schen Produktion gelegt. 

Ganz richtig stellen sie den Fundamentalsatz auf, daß nur die Arbeit produktiv ist, die einen Mehrwert schafft, in deren Produkt also ein höherer Wert enthalten ist, als die Summe der Werte beträgt, die während der Produk- tion dieses Produkts aufgezehrt wurden. Da nun der Wert von Rohstoff und Material gegeben ist, der Wert des Arbeitsvermögens aber gleich dem Minimum des Salairs, so kann dieser Mehrwert offenbar nur bestehn in dem Überschuß der Arbeit, die der Arbeiter dem Kapitalisten zurückgibt über das Quantum Arbeit hinaus, das er in seinem Salair empfängt. In dieser Form erscheint er allerdings nicht bei den Physiokraten, weil sie den Wert überhaupt noch nicht auf seine einfache Substanz, Arbeitsquantität oder Arbeitszeit, reduziert haben. 

Ihre Darstellungsweise ist natürlich notwendig bestimmt durch ihre allgemeine Auffassung von der Natur des Werts, der bei ihnen nicht eine bestimmte gesellschaftliche Daseinsweise der menschlichen Tätigkeit (Arbeit) ist, sondern aus Stoff besteht, aus Erde, Natur und den verschiedenen Modifikationen dieses Stoffs. 

Die Differenz zwischen dem Wert des Arbeitsvermögens und seiner Verwertung - also der Mehrwert, den der Kauf des Arbeitsvermögens seinem Anwender verschafft - erscheint am handgreiflichsten, unwidersprech- lichsten von allen Produktionszweigen in der Agrikultur, in der Urproduktion. Die Summe der Lebensmittel, die der Arbeiter jahraus, jahrein verzehrt, oder die Masse Stoff, die er konsumiert, ist geringer als die Summe der Lebensmittel, die er produziert. 

In der Manufaktur sieht man überhaupt den Arbeiter nicht direkt weder seine Lebensmittel noch den Über- schuß über seine Lebensmittel produzieren. Der Prozeß ist vermittelt durch Kauf und Verkauf, durch die verschiednen Akte der Zirkulation, und erheischt zu seinem Verständnis Analyse des Werts überhaupt. In der Agrikultur zeigt er sich unmittelbar im Überschuß der produzierten Gebrauchswerte über die vom Arbeiter konsumierten Gebrauchswerte, kann also ohne Analyse des Werts überhaupt, ohne klares Verständnis von der Natur / des Werts begriffen werden. 

Also auch, wenn der Wert auf Gebrauchswert und dieser auf Stoff überhaupt reduziert wird. Die Agrikulturar- beit ist den Physiokraten daher die einzige produktive Arbeit, weil die einzige Arbeit, die einen Mehrwert schafft, und die Grundrente ist die einzige Form des Mehrwerts, die sie kennen. Der Arbeiter in der Manufaktur vermehrt den Stoff nicht; er verändert nur die Form desselben. Das Material - die Masse des Stoffs - ist ihm gegeben von der Agrikultur. Er setzt allerdings dem Stoff Wert zu, nicht durch seine Arbeit, sondern durch die Produktions- kosten seiner Arbeit: durch die Summe der Lebensmittel, die er während seiner Arbeit verzehrt gleich dem Mi- nimum des Salairs, das er von der Agrikultur erhält. Weil die Agrikulturarbeit als die einzig produktive Arbeit aufgefaßt wird, wird die Form des Mehrwerts, die die Agrikulturarbeit von der industriellen Arbeit scheidet, die Grundrente, als die einzige Form des Mehrwerts aufgefaßt. 

Der eigentliche Profit des Kapitals, von dem die Grundrente selbst nur ein Abzweiger, existiert bei den Physio- kraten daher nicht. Der Profit erscheint ihnen nur als eine Art höhrer Arbeitslohn, der von den Grundeigen- tümern gezahlt wird, den die Kapitalisten als Revenue verzehren (also ebenso in die Kosten ihrer Produktion eingeht wie das Minimum des Salairs bei den gewöhnlichen Arbeitern) und der den Wert des Rohstoffes ver- mehrt, weil er in die Konsumtionskosten eingeht, die der Kapitalist, [der] Industrielle, verzehrt, während er das Pro- dukt produziert, den Rohstoff in neues Produkt umwandelt. 

Der Mehrwert in der Form des Geldzinses - andre Abzweigung des Profits - wird von einem Teil der Physiokra- ten, wie dem ältren Mirabeau, daher für naturwidrigen Wucher erklärt. Turgot dagegen leitet seine Berechtigung daher, daß der Geldkapitalist Land, also Grundrente, kaufen könnte, ihm also sein Geldkapital soviel Mehrwert schaffen muß, als er erhielte, wenn er es in Grundbesitz verwandelte. 

Damit ist also auch der Geldzins kein neugeschaffner Wert, nicht Mehrwert; sondern es ist nur erklärt, warum ein Teil des von den Grundeigentümern erworbnen Mehrwerts dem Geldkapitalisten unter der Form des Zin- ses zufließt, ganz wie aus andren Gründen erklärt ist, warum dem industriellen Kapitalisten ein Teil dieses Mehrwerts unter der Form des Profits zufließt. Weil die Agrikulturarbeit die einzig produktive Arbeit ist, die einzige Arbeit, die Mehrwert schafft, ist die Form des Mehrwerts, welche die Agrikulturarbeit von allen andren Zweigen der Arbeit unterscheidet, die Grundrente, die allgemeine Form des Mehrwerts. Industrieller Profit und Geldzins sind nur verschiedne Rubriken, worin sich die Grundrente verteilt und zu bestimmten Teilen / aus der Hand der Grundeigentümer in die Hand andrer Klassen übergeht. 

Ganz umgekehrt, wie die spätem Ökonomen seit A.Smith - weil sie den industriellen Profit mit Recht als die Gestalt fassen, worin der Mehrwert ursprünglich vom Kapital angeeignet wird, daher als die ursprüngliche allgemeine Form des Mehrwerts - Zins und Grundrente nur als Abzweigungen des industriellen Profits darstellen, der vom industriellen Kapitalisten an verschiedne Klassen, die Mitbesitzer des Mehrwerts sind, distribuiert worden. 

Außer dem schon angegebnen Grund - weil die Agrikulturarbeit die Arbeit ist, worin das Schaffen des Mehr- werts materiell handgreiflich erscheint, und abgesehn von den Zirkulationsprozessen - hatten die Physiokra- ten mehrere andre Motive, die ihre Auffassung erklären. 

Einmal, weil in der Agrikultur die Grundrente als drittes Element erscheint, als eine Form des Mehrwerts, die sich nicht in der Industrie oder nur verschwindend findet. Es war der Mehrwert über den Mehrwert (Profit) hinaus, also die handgreiflichste und auffallendste Form des Mehrwerts, der Mehrwert in zweiter Potenz. 

„Durch die Landwirtschaft", wie der naturwüchsige Ökonom Karl Arnd, „Die naturgemäße Volksuiirthschaft etc.", Hanau 1845, p.461, 462, sagt, wird „ein Wert - in der Bodenrente - erzeugt, welcher in den Gewerben und im Handel nicht vorkömmt; ein Wert, welcher übrigbleibt, wenn aller aufgewendete Arbeitslohn und alle verwen- dete Kapitalrente ersetzt sind." 

Zweitens. Abstrahiert man vom auswärtigen Handel - was die Physiokraten zur abstrakten Betrachtung der bür- gerlichen Gesellschaft richtig taten und tun mußten -, so ist es klar, daß die Masse der in der Manufaktur etc. beschäftigten, selbständig von der Agrikultur losgelösten Arbeiter bestimmt ist - dies die „freien Hände", wie Steuart sie nennt -, bestimmt ist durch die Masse der Agrikulturprodukte, die die Ackerbauarbeiter über ihren eignen Konsum hinaus produzieren. 

„Es ist unverkennbar, daß die relative Anzahl von Menschen, die, ohne selbst Ackerbauarbeit zu leisten, unter- halten werden können, völlig nach den Produktivkräften der Ackerbauer gemessen werden muß." (R.Jones, „On the Dist. of Wealth", London 1831, p.159, 160.

Da die Agrikulturarbeit so Naturbasis (sieh hierüber in einem frühren Heft) nicht nur für die Surplusarbeit in ihrer eignen Sphäre, sondern für die Verselbständigung aller andren Arbeitszweige, also auch für den in densel- ben geschaffnen Mehrwert, so klar, daß sie als Schöpfer des Mehrwerts aufgefaßt werden mußte, solange über- haupt bestimmte, konkrete  / Arbeit, nicht die abstrakte Arbeit und ihr Maß, die Arbeitszeit, als Substanz des Werts aufgefaßt sind. 

Drittens. Aller Mehrwert, nicht nur der relative, sondern der absolute, beruht auf einer gegebnen Produktivität der Arbeit. Wäre die Produktivität der Arbeit erst zu dem Grad entwickelt, daß die Arbeitszeit eines Mannes nur hinreichte, um ihn selbst am Leben zu erhalten, um seine eignen Lebensmittel zu produzieren und repro- duzieren, so gäbe es keine Surplusarbeit und keinen Surpluswert, fände überhaupt keine Differenz zwischen dem Wert des Arbeitsvermögens und seiner Verwertung statt. 

Die Möglichkeit der Surplusarbeit und des Surpluswerts daher geht von einer gegebnen Produktivkraft der Arbeit aus, einer Produktivkraft, die das Arbeitsvermögen befähigt, mehr als seinen eignen Wert wiederzuer- zeugen, über die durch seinen Lebensprozeß gebotne Bedürftigkeit hinaus zu produzieren. Und zwar muß diese Produktivität, diese Stufe der Produktivität, von der als Voraussetzung ausgegangen wird, zunächst, wie wir in Zweitens gesehn haben, in der Agrikulturarbeit vorhanden sein, erscheint also als Naturgabe, Produktivkraft der Natur

Hier in der Agrikultur ist von vornherein die Mitarbeit der Naturkräfte - die Erhöhung der menschlichen Ar- beitskraft durch Anwendung und Exploitation der Naturkräfte - ein Automat, im großen und ganzen gegeben. Diese Benutzung der Naturkräfte im großen erscheint in der Manufaktur erst bei der Entwicklung der großen Industrie. Eine bestimmte Entwicklungsstufe der Agrikultur, sei es im eignen Land, sei es in fremden Ländern, erscheint als Basis für die Entwicklung des Kapitals. Hier fällt der absolute Mehrwert soweit mit dem relativen zusammen. (Dies macht Buchanan - großer Gegner der Physiokraten - selbst gegen A.Smith geltend, indem er nachzuweisen sucht, daß auch dem Auf- kommen der modernen städtischen Industrie Agrikulturentwicklung vorherging.) 

Viertens. Da es das Große und Spezifische der Physiokratie ist, den Wert und den Mehrwert nicht aus der Zir- kulation, sondern aus der Produktion abzuleiten, beginnt sie, im Gegensatz zum Monetär- und Merkantilsys- tem, notwendig mit dem Produktionszweig, der überhaupt abgesondert, unabhängig von der Zirkulation, von dem Austausch gedacht werden kann und nicht den Austausch zwischen Mensch und Mensch, sondern nur zwischen Mensch und Natur voraussetzt. 
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Theorien über den Mehrwert, MEW 26.1, Berlin (O) 1965, S. 12-19 [S. 15/16 fehlen]


Nota. - Es geht hier nicht um den materialen Gehalt des Abschnitts über die Physiokraten, sondern um Marxens wissenschaftliches Vorgehen. Nicht um die ominöse 'Methode', um die so viel Aufhebens gemacht wird. Die Methode ist der gesunde Menschenverstand. Was sich vom gesunden Menschenverstand unter- scheidet, ist der Gegenstand der Untersuchung. Der gesunde Menschenverstand in seinem Alltagsgebrauch untersucht Sachverhalte, auch logische Sachverhalte. Er bedient sich vernünftiger Weise der diskursiven Me- thode, in der definierte und durch umfassenden Gebrauch bewährte Begriffe nach geprüften und ebenfalls bewährten Schlussverfahren mit einander kombiniert werden. 

Marx hatte durch die Arbeit an den Grundrissen erkannt, dass er nicht die Politische Ökonomie zu vollenden und abzuschließen und auch nicht einzelne ökonomische Theorien oder Kategorien zu kritisieren hätte, son- dern eine grundlegende Kritik einer ganzen Wissenschaft liefern musste. Die Kenntnis ihres Sachgegenstands ist eine Voraussetzung, aber nicht ihr Zweck. Gegenstand der Kritik sind vielmehr die gedanklichen Voraussetzun- gen, mit der diese Wissenschaft ihre Erkenntnisse hervorbringt - und in der Folge womöglich die Kritik an diesen Erkenntnissen.

Begründet haben die Politische Ökonomie die Physiokraten. Von den Merkantilisten stammt nur der Name, zur Begriffsbildung haben sie nichts beigetragen. Die Kritik untersucht nun das Verhältnis der Vorstellungen zu den Sachverhalten unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen historischen Bedingtheiten. Zu den faktischen wie logischen Bedingungen zählt an erster Stelle das Erkenntnisinteresse der jeweiligen theoretischen Schule. Die Physiokraten haben das ihre unverhohlen ausgesprochen: die Förderung der kapitalistischen Produktionsweise - namentlich durch die Einführung bürgerlicher Eigentumsformen in der Landwirtschaft (die der Entwicklung einer einheimischen Industrie erst den nötigen inneren Markt schaffen musste).  

Ihr eigener politischer Erfolg in Frankreich war zwiespältig, aber ihr Grundgedanke, die Gesellschaft als eine Konstellation ökonomisch definierter Klassen aufzufassen und den gesellschaftliche Verkehr als einen Kreislauf aufzufassen, der auf dem unablässigen Austausch zwischen diesen Klassen beruhte, legte den Grundstein der ökonomi- schen Wissenschaft. 

Mir Politischer Ökonomie kann man sich nach der Natur der Sache kaum ohne eigenes Interesse beschäftigen. Später sollten sich die Interessen den Erkenntnissen quer in den Weg stellen, doch bei den unbefangenen denk- frischen Pionieren der physiokratischen Schule galt Erkennen noch selber das Interesse. Man kann ja nicht den Dr. Quesnay einen Wortführer der kleinen bäuerlichen Betriebe nennen. Er ist zur politischen Ökonomie auf demselben Weg gekommen wie zu seiner medizinischen Haupt- und Staatskarriere - durch den Blutkreislauf. Doch anders als bei jener war sein Interesse rein theoretisch. Und folglich ist er sogleich auf die Kernfrage ge- stoßen: Was ist was wert? Oder anders, was ist der Wert? Und darin versteckt war von Anfang an die Frage: Wie kann es sein, dass ein Wert mehr wert wird?

Es war nicht 'alles Ideologie'. Wie hätte es Marx damit abtun können? Das musste in vollem Ernst und im Detail untersucht werden. 'Theorien über den Mehrwert' ist daher der Teil des Ökonomischen Manuskripts 1863-1865 überschrieben, den Marx als vierten, dogmengeschichtlichen Band des Kapital vorgesehen hat.

Nachtrag!

Den gestrichenen letzten Satz muss ich korrigieren. Es sieht eher so aus, als seien die Theorien über den Mehrwert schon 1862/63 entstanden im Anschluss an die Schrift Zur Kritik der Politischen Ökonomie von 1859, und datiert dann vor dem Konvolut von 1863-65.


Samstag, 24. November 2018

Lenin über Dialektik.

 
In der Diskussion vom 30. Dezember [1921] sagte [Gen. Bucharin]:

"Genossen, auf viele von Ihnen machen die hier vor sich gehenden Auseinandersetzungen etwa folgenden Eindruck: Da kommen zwei Menschen und fragen einander, was das Tringkglas ist, das auf dem Rednerpult steht. Der eine sagt: 'Das ist ein Glaszylinder, und jeden soll der Bannfluch trefen, der sagt, dass dem nicht so ist!' Der zweite sagt: 'Das Glas, das ist ein Trinkgefäß, und jeden soll der Bannfluch trefen, der sagt, dass dem nicht so ist.' "


Durch dieses Beispiel wollte mir Bucharin, wie der Leser sieht, in populärer Weise erklären, wie schädlich Ein- seitigkeit ist. Ich nehme diese Erläuterung dankbar entgegen, und um meine Dankbarkeit durch die Tat zu be- weisen, antworte ich mit der populären Erklärung dessen, was Eklektizismus zum Unterschied von Dialektik ist.

Ein Glas ist unstreitig sowohl ein Glaszylinder als auch ein Trinkgefäß. Das Glaus bessitzt aber nicht nur diese zwei Merkmale oder Eigenschaften, Seiten, Wechselbeziehungenn und "Vermittelungen"mit der gesamten übri- gen Welt. Ein Glas ist ein schwerer Gegenstand, der ein Wurfinstrument sein kann. Ein Glas kann als Briefbe- schwerer, als Behälter für einen gefangenen Schmetterling dienen, ein Glas kann von Wert sein als Gegenstand von künstlerischeer Gravierung und Zeichnung, ganz unabhängig davon, ob es sich zum Trinken eignet, ob es aus Glas gefertigt, ob seine Form zylindrisch oder nicht ganz zylindrisch ist, und so weiter und dergleich mehr.

Weiter. Brauche ich jetzt ein Glas als Trinkgefäß, so ist es für mich absolut unwichtig zu wissen, ob seine Form ganz zylindrisch und ob es aus Glas gefertigt ist, dagege ist es wichtig, dass der Boden keinen Sprung  aufweist, dass man sich nicht die Lippen verletzt, wenn man dieses Glas benutzt, usw. Brauche ich dagegen ein Glas nicht zum Trinken, sondernzu einer Verwendung, für die jeder Glaszylinder taugt, so genügt / mir auch ein Glas mit einem Sprung im Boden oder sogar ganz ohne Boden sw.

Die formale Logik, auf die man sich in den Schulen beschränkt (und in den unteren Schulklassen - mit gewis- sen Korrekturen - beschränken muss), nimmt die formalen Definitionen, wobei sie sich von dem leiten lässt, was am üblichsten ist oder was am häufigsten in die Augen springt, und beschränkt sich darauf. Nimmt man dabei zwei oder mehrere verschiedenen Definition und vereinigt diese ganz zufällig (sowohl Glaszylinder wie auch Trinkgefäß), so erhalten wir eine eklektische Definition, die auf verschiedene Seiten des Gegenstandes hinweist und sonst nichts.

Die dialektische Logik verlangt, dass wir weitergehen. Um einen Gegenstand wirklich zu kennen, muss man alle seine Seiten, alle Zusammenhänge und "Vermittelungen" erfassen und erforschen. Wir werden das niemals voll- ständig erreichen, die Forderung der Allseitigkeit wird uns aber vor Fehlern und vor Erstarrung bewahren. Das zum ersten. Zweitens verlangt die dialektische Logik, dass man den Gegenstand in seiner Entwicklung, in seine "Selbstbewegung" (wie Hegel manchmal sagt), in seiner Veränderung betrachten. In bezug auf das Glas ist das nicht ohne weiteres klar, aber auch ein Glas bleibt nicht unverändert, besonders aber ändert sich die Bestim- mung des Glases, seine Verwendung, sein Zusammenhang mit der Umwelt. Drittens muss die vollständigen "Defi- nition" eines Gegenstandes die ganze menschliche Praxis sowohl als Kriterium der Wahrheit wie auch als prakti- sche Determinante des Zusammenhangs eines Gegenstandes mit dem, was der Mensch braucht, eingehen. Vier- tens verlangt die dialektische Logik, dass es "eine abstrakte Wahrheit nicht gibt, dass die Wahrheit immer kon- kret ist", wie der versorbene Plachanow - mit Hegel - zu sagen pflegte.
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Lenin, Werke, Bd. 32, Berlin (O) 1970, S. 84f.

Nota. - Wer Lenins peinlich unbelesenen Materialismus oder Empiriokritzismus kennt und auch seine schülerhaft dogmatischen Hegel-Exzerpte aus 1915, wird den Erkenntnisfortschritt aus dem obigen Beitrag zur Gewerk- schaftsdebatte gar nicht hoch genug einschätzen können. Der Eklektizismus, den auch er sich hier zuschulden kommen lässt, ist nicht wie bei Bucharin primär, sondern sekundär, nämlich begründet in seiner "materialisti- schen" objektivistischen Prämisse. Die "Forderung der Allseitigkeit" lässt sich nur technisch-praktisch nicht erfüllen, 'an sich' stünde es wohl fest, wieviele und welche 'Merkmale' und 'Eigenschaften' ein Ding aufweist. Und während es bei Hegel die Begriffe sind, die sich "selbstbewegen", sind es bei Hegel die Dinge - und schlep- pen die Begriffe hinter sich her. Denn mit ihrer Umwelt hängen sie selbst zusammen (physikalisch, nehme ich an), die 'ganze menschliche Praxis' kommt erst "drittens" hinzu - selber sub specie 'Bedürfnis' ein Naturzusam- menhang...

Doch seine Zusammenfassung ist eklektischer, als seine Argumentation selbst es war: Da stand als Kriterium nur die Frage, wozu ich das Ding brauchen will. Merkmale und Eigenschaften 'erscheinen' als Widerhall mensch- licher Absichten. Und das nicht erst, sobald sie, wie das Wasserglas, selber von Menschen produziert wurden.
JE

Samstag, 17. November 2018

Smith und Ricardo über die Triebkraft der bürgerlichen Ökonomie.

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A. Smith spricht den wahren Geist der capitalistischen Production aus, indem er die Accumulation (Reproduction auf stets erweiterter Stufenleiter) als das oberste Gesetz proclamirt, aber er thut dieß noch in einer Weise (ge- wissermaassen wohlmeinenden und altväterlichen Weise), die einem Entwicklungsgrad der Gesellschaft ent- spricht, worin die capitalistische Productionsweise ihre specifischen Productionsmittel (Maschinerie etc) erst zu schaffen begann, der Staat ihr noch nicht völlig unterjocht war, und die zur Betreibung der grossen Industrie nöthigen Capitalien erst in ihrer Kinderzeit waren; ihr Wachsthum daher als das sine qua non erschien; zu einer Zeit, wo ausserdem noch der kaufmännische Capitalist ein grosses Uebergewicht über den industriellen Capi- talist besaß. 

Er predigt Sparsamkeit. Er zetert gegen Staatsverschwendung. Er betrachtet die größtmöglichste Vermehrung der productiven Arbeiter als den letzten Zweck aller gesunden Oekonomie. Es läuft damit unter Wohlwollen für den productiven Arbeiter, das sich bis hinab auf den Ochsen als einen productiven Arbeiter erstreckt. Er glaubt nämlich, und dieß zum Theil richtig für den damaligen Stand der Entwicklung, daß im Maaße, wie surpluspro- duce in productives Capital verwandelt wird, im Verhältniß zur Accumulation also, die Nachfrage nach Arbeit wächst, daher der Arbeitslohn steigt, daher die Lage der productiven Arbeiter sich verbessert, während der Capitalist entschädigt wird durch die stets steigende Productivkraft der Arbeit.

Wenn A. Smith der Oekonom der Manufacturperiode in ihrem Ueber-/gang zur grossen Industrie und daher die Accumulation mehr vom mittelbürgerlichen Standpunkt ansieht, ist Ricardo der Oekonom der grossen In- dustrie und schaut sich die Dinge vom großbürgerlichen Standpunkt an. Production um der Production willen, möglichstes Wachsen der Reproduction und namentlich der Productivkraft der Arbeit, ist der letzte und bestim- mende Zweck. 


Aber zu diesem Behufe hält Ricardo es für überflüssig, Sparsamkeit zu predigen. Da ihm die capitalistische Productionsweise die natürliche und absolute Form der gesellschaftlichen Production ist, Consumtion aber der natürliche Zweck aller Production ist, schließt diese un- gebundne Entwicklung der Production nothwendig die der Consumtion in allen Formen ein, und wie das Capital sich daher vertheilt in Luxus und andre Production, ist durch die Natur der capitalistischen Production, d. h. die Ausgleichung der Profitrate unter den verschied- nen Capitalien bestimmt. 

Er theilt nicht mehr das Vorurtheil A. Smiths, daß die Nachfrage nach Arbeit steigt im Verhältniß zur Accumu- lation, und daher wages und daher im selben Verhältniß sich die Lebenslage der arbeitenden Klasse verbessert. Er weiß umgekehrt, daß wenn mit der Accumulation und der sie begleitenden Entwicklung der grossen Indu- strie, die Nachfrage nach Arbeit absolut wächst, sie relativ abnimmt und eine beständige surpluspopulation producirt wird. (people are made redundant.) Die productive Arbeiterklasse existirt hier überhaupt nur als Productionsmaschine of surplus value or surplus produce für die Besitzer der Arbeitsbedingungen, d. h. für capitalists und landlords privately, und als rent collectively, d. h. für den disponiblen nationalen Reichthum

Im Unterschied von A. Smith, der den Reichthum in der größtmöglichsten Masse productiver Arbeiter befin- det, sieht Ricardo umgekehrt im möglichst kleinen productiven Theil der Bevölkerung im Verhältniß zum selben Surplusproduce und dem von ihr lebenden andren Theil der Bevölkerung nur das Zeichen der größt- möglichsten Entwicklung der Productivkraft der Arbeit. Er beweist sogar, was die Luxusverausgabung selbst betrifft, daß die der landlords den Arbeitern günstiger ist als die der capitalists, weil ihre Consumtion gleich viel Arbeiter in Bewegung setzt, der landlord sie aber mit grössrer Masse von retainers, Bedienten etc verzehrt, wäh- rend der Sobre Capitalist sie mehr in dauerbaren Luxuswaaren auslegt. Der erstre wirkt also durch seine Nach- frage für unproductive Arbeiter auf den Arbeitsmarkts, steigert die Nachfrage nach Arbeit mehr durch seine Consumtion als der andre. A. Smith's Angst, daß ein ungebührlicher Theil der productiven Arbeiter in unpro- ductive verwandelt werde, existirt nicht mehr für Ricardo, der weiß, daß die great industry makes constantly people redundant; der also beständig einen überfüllten Arbeitsmarkt vor sich hat.

Andrerseits aber entwickelt sich mit der Accumulation die Rente, das / Einkommen der landlords und dieß hindert die Reproduction und Entwicklung der Productivkraft der Arbeit. Es ist namentlich (im England Ricardo's) die nationale Beschränkung (durch Korngesetze) der Agricultur, welche diesen Effekt der Accumu- lation künstlich steigert. Es ist also erstes Gebot diese nationale Grundlage des Steigens der Rente niederzu- brechen und freetrade in Korn etc einzuführen. Ricardo bekämpft in dieser Weise das Grundeigenthum im Namen des Capitals und sucht so das surplusproduce möglichst in die Hand der industriellen Capitalisten zu bringen. Der Profit ist der Stachel der Production und mit dem Steigen der Rente fällt die Profitrate. Es muß also durch die Beseitigung ihrer künstlichen Steigerungsmittel der Accumulationstrieb angefeuert und à sa hauteur erhalten werden. 

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Ökonomisches Manuskript 1863-1865, MEGA II/4.1, 375ff.
  



Nota. - Adam Smith ist als Anwalt der beginnenden kapitalistischen Produktionsweise ein Gegner der Merkanti- listen, denen die Anhäufung von Geld Zweck und Motor des Wirtschaftens war. Ihnen gegenüber hebt er den Fortschritt hervor, den die materielle Produktion für die Menschen bedeutet. Die Arbeiter sind für ihn Teilhaber dieses Fortschritts.

Ricardo ist unsentimental; er kennt schon die industrielle Revolution. Seine Gegner sind die Grundbestitzer und die Getreidezölle, die ihnen dienen, und wo es gegen die geht, bedient er sich auch schonmal der Wohl- fahrt der arbeitenden Klasse als Argunent.
JE

Donnerstag, 8. November 2018

Besonderheit der Transportindustrie.



Eine Ausnahme bildet alle Transportindustrie, d. h. alle Industrie, worin das Capital sich beständig im Producti- onsproceß befindet. Das eigentliche Product dieser Industrie ist die Locomotion; d. h. die Ortsveränderung der Waare (oder auch der Person), die transportirt wird. Die Waaren, so lange sie sich in der Hand der Transportin- dustrie befinden, befinden sich beständig in Circulation. Der Werth den die Transportindustrie zusetzt den Waa- ren wird daher bezahlt au fur et à mesure, daß sie Waaren transportirt. 

Und aus diesem Geld beständig bezahlt Kohlen, Arbeiter u. s. w., kurz die Consumtionsmittel der Transportin- dustriezweige (ditto repairs etc.) Ein Theil dieses Werths befindet sich hier allerdings beständig im Circulations- proceß, während sich der andre im Productionsproceß fortdauert. Aber die Eisenbahn selbst befindet sich be- ständig im Productionsproceß, als ein Theil des in der Transportindustrie gelegten capital fixe. 

Es ist nicht der Fall, wie etwa beim Spinnen, wo ein Theil Baumwolle als Rohmaterial sich im Productionspro- ceß und ein andrer als Garn auf dem Markt befindet. In der Gestalt, worin die Eisenbahn sich im Production- sproceß – im Proceß der Locomotionserzeugung befindet, befindet sie sich ditto auf dem Markt, d. h. wird sie verkauft. Aber was von ihr beständig verkauft wird, ist der productive Dienst, den sie leistet, wie etwa bei Be- wegungsmaschinerie, die vermiethet wird. Die Bewegung, die sie produciren hilft, wird verkauft. 

Eisenbahn, Lokomotiven etc befinden sich nicht im Circulationsproceß als Waaren. Ebenso wenig das Schiff oder der Omnibus. Was verkauft wird, ist ihr Product, die Ortsveränderung des transportirten Artikels. Aber dieß Product wird, im Unterschied von andren Waaren, verkauft, während es sich im Productionsproceß be- findet, nicht nachdem es ihn verlassen hat, wie etwa das Garn den Spinnproceß. 

Ich kaufe nicht den Omnibus, sondern zahle seine Bewegung, den Aufenthalt in seinem Pro- ductionsproceß, der für mich Circulationsproceß ist, Locomotion. Der Omnibus selbst, so weit er functionirt, verläßt nie den Productionsproceß; aber in seinem Productionsproceß wird er consummirt von den Waaren und Menschen, die er transportirt. Die Transportindustrie ist daher sui generis, und unterscheidet sich dadurch von andren In- dustriezweigen, daß ihr Product, der Gebrauchswerth, den  / sie schafft, nicht von seinem Productionsproceß getrennt werden kann, also nicht ausserhalb desselben als Waare circuliren kann. 
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Ökonomisches Manuskript 1863-1865, MEGA II/4.1, 363f.
 



Nota. - Transport ist eine Diensleistung. Der Privatmensch, der im Omnibus fährt, bezahlt die Fahrt nicht aus seinem zirkulierendem Kapital, sondern aus seiner Revenü. Das ist dem Transportkapital aber egal; es verwertet sich und bildet neues Kapital. Darum braucht hier zwischen privater und industrieller Dienstleistung nicht unterschieden zu werden.
JE

Mittwoch, 7. November 2018

Überproduktion und erweiterte Reproduktion.

 
Alle Accumulation oder Reproduction auf erweiterter Stufenleiter löst sich also auf in fortwährende relative Ueber- production, d.h. in Ueberproduction, verglichen mit der Reproduction, die nur das vorhandne Capital (sei es auch auf verschiednen Stufen seiner Productivität) reproducirt. Und zwar ist diese Ueberproduction ein fortlau- fendes, continuirliches und immanentes Moment der capitalistischen Productionsweise, wie die Accumulation selbst, die – den Proceß stofflich betrachtet – nur ein andrer Name dafür ist.

Auf der Basis aller einigermaassen entwickelten Productionsweisen bildet diese Ueberproduction oder Accumulation ein immanentes Moment der Reproduction, 1) weil Erweiterung des Productionsprocesses durch den natürlichen Anwuchs der Bevölkerung bedingt ist; 2) weil Bildung eines Reservefonds nöthig ist, wegen der Gefahren u.s.w., der Zufälle, denen die existirenden Productionsmittel ausgesetzt sind, (dem Risico der Production), die daher nicht sich selbst ersetzen können, sondern durch additionelle Production ersetzt werden müssen.* Aber diese Art Ueberproduction ist auf frühren Productionsweisen eine verschwindende Grösse, verglichen mit ihrer Grösse auf Basis der capitalistischen Productionsweise,

1) weil in diesen minder entwickelten Produktionsweisen Schatzbildung als solche theilweise Zweck der Ueber- production ist; d.h. diese Form des surplusproduce als letzter Zweck gilt;

2) weil in Folge der ihnen entsprechenden oder aus ihnen heraus wach-/senden gesellschaftlichen Organisation ein enormer Theil der Surpluslabor und des surplusproduce, wie in alt Asien, Africa etc in unproductiven Staats- und religiösen Leuten verausgabt wird;

3) weil in der capitalistischen Productionsweise der Anwuchs der Bevölkerung und die Bildung einer Surplus- population von Arbeitern ungleich grösser ist, und damit der Reservefonds für diese Bevölkerung;

4) weil in ihr der nöthige Reservefonds für die Reproduction des Capitals selbst auf alter Stufenleiter wachsen muß, da durch die Anwendung colossaler Naturkräfte etc und die auf dem Zusammenhang mit dem Weltmarkt beruhende Production die Gefahren, die das existirende Capital der Vernichtung aussetzen, ungemein zuneh- men; ausserdem ein den frühren Productionsweisen ganz unbekannter Reservefonds nöthig wird durch die be- ständige Umwälzung der Productionsweise, die beständige Erweiterung der Productionsleiter einerseits, bestän- diges Ersetzen noch nicht aufgenutzter Productionsmittel durch neure und bessre erzwingt und als Gesetz jedem einzelnen Capitalisten zu- herrscht;

5) weil der Trieb des Capitalismus sich erst auf der Basis dieser Productionsweise völlig entwickelt;

6) endlich, weil die Mittel diesen Trieb zu realisiren sich hier erst vollständig entwickeln, mit der Entwicklung der Productivkräfte der Arbeit, den Mitteln grosse Waarencapitalien in der Form von Vorräthen auf dem Markt zu halten, der Ausdehnung der Märkte selbst, der Ineinanderschlingung der Production aller Völker, der bestän- digen Vervielfältigung der Productionszweige, der Entwicklung des fixen Capitals in allen Formen, der Bildung der Leichtigkeit, um in einer Sphäre erzeugtes überschüssiges Ca- pital in einer andren functioniren zu lassen (überhaupt Ersparungen zu capitalisiren).

Im Verhältniß also, worin die capitalistische Productionsweise in einem Lande entwickelt wird, nehmen die Nothwendigkeit der Accumulation, der Trieb dazu und die Mittel ihn zu realisiren, oder neues Capital zu produ- ciren, zu, oder wird beständige Ueberproduction (im bisher betrachteten Sinn) auf stets wachsender Stufenleiter ein im- manentes Moment des Reproductionsprocesses.


*)Ueberall muß die Gesellschaft a certain Surplusarbeit verrichten, theils als Fonds für wachsende Bevölkerung, theils als Reservefonds zur Deckung des bestehenden Capitals. In der capitalistischen Production verrichtet der Arbeiter gratis diese Surplusarbeit, während es umgekehrt den Schein hat, als ob der Capitalist – because a part of the surplusvalue, appropriated by him, is used to that purpose – sich die Mittel zur Bildung dieses Reserve- fonds „ab spare“ [sic] Und deßwegen wähnt auch der würdige Roscher, die Gesellschaft würde von der Hand in den Mund leben, wenn there were not the savings of the capitalist! 
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Ökonomisches Manuskript 1863-1865, MEGA II/4.1, 357f.



Nota. - Dem Begriff nach ist Überproduktion=Überproduktion. Doch während in den vorbürgerlichen Gesell- schaftsformen die Überproduktion zwar bloße Vergeudung, aber auch ein zu vernachlässigendes Randphäno- men ist, ist sie für die kapitalistischen Produktionsweise der notwendige Trreibsatz des ganzen Prozesses: Es muss 'mehr' produziert werden, um den status quo zu bewahren - denn der Staus quo ist ein dynamischer. Die Dynamik beruht darauf, dass das Mehr erhalten bleibt und in die Startbedingungen des nächsten Produktionszyklus eingeht. 

Überproduktion ist die Norm. Aber es gibt Störungen. Dann bleibt das Mehr liegen und geht nicht in den nächsten Produktionszyklus ein. Das ist nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Aber die Ausnahmen gesche- hen selbst nach einer Regel; leider lässt sich nicht eruieren, nach welcher.

Nota II. -  Als 'Gesetz' wird hier die geschäftliche Erfordernis bezeichnet, die das Gesamtsystem dem einzel- nen Unternehmer individuell "zuherrscht"! 
JE