Dienstag, 27. November 2018
Die Physiokraten II: Ihre Widersprüche.
Daher die Widersprüche im System der Physiokratie.
Es ist in der Tat das erste System, das die kapitalistische Produktion analysiert und die Bedingungen, innerhalb deren Kapital produziert wird und innerhalb deren das Kapital produziert, als ewige Naturgesetze der Produk- tion darstellt. Andrerseits erscheint es vielmehr als eine bürgerliche Reproduktion des Feudalsystems, der Herr- schaft des Grundeigentums; und die industriellen Sphären, innerhalb deren das Kapital sich zuerst selbständig entwickelt, erscheinen vielmehr als „unproduktive" Arbeitszweige, bloße Anhängsel der Agrikultur.
Die erste Bedingung der Kapitalentwicklung ist die Trennung des Grundeigentums von der Arbeit, das selb- ständige Gegenübertreten der Erde - dieser Urbedingung der Arbeit - als selbständige Macht, in der Hand einer besondren Klasse befindliche Macht, gegenüber dem freien Arbeiter. In dieser Darstellung erscheint daher der Grundeigentümer als der eigentliche Kapitalist, das heißt der Aneigner der Surplusarbeit. Der Feudalismus wird so sub specie der bürgerlichen Produktion reproduziert und erklärt wie die Agrikultur als der Produktions- zweig, worin sich die kapitalistische Produktion - d.h. die Produktion des Mehrwerts - ausschließlich darstellt. Indem so der Feudalismus verbürgerlicht wird, erhält die bürgerliche Gesellschaft einen feudalen Schein.
Dieser Schein täuschte die adligen Anhänger des Dr. Quesnay wie den schrullenhaft patriarchalischen alten Mirabeau. Bei den weiteren Köpfen des physiokratischen Systems, namentlich Turgot, verschwindet dieser Schein vollständig und stellt sich das physiokratische System als die innerhalb des Rahmens der feudalen Ge- sellschaft durchdringende neue kapitalistische Gesellschaft dar. Es entspricht dies also der bürgerlichen Gesell- schaft in der Epoche, worin sie aus dem Feudalwesen herausbricht.
Der Ausgangspunkt ist daher in Frankreich, in einem vorherrschend ackerbauenden Land, nicht in England, einem vorherrschend industriellen, kommerziellen und seefahrenden Land. Hier ist natürlich der Blick auf die Zirkulation gerichtet, daß das Produkt erst als Ausdruck der allgemeinen gesellschaftlichen Arbeit - [als] Geld - Wert erhält, Ware wird. Soweit es sich / in der Gestalt daher nicht um die Form des Werts handelt, sondern um die Wertgröße und die Verwertung, liegt hier der profit upon expropriation, d.h. der von Steuart geschilderte rela- tive Profit zur Hand.
Soll aber das Schaffen des Mehrwerts in der Produktionssphäre selbst nachgewiesen werden, so muß zunächst zum Arbeitszweig zurückgegangen werden, worin er sich unabhängig von der Zirkulation darstellt, zur Agri- kultur. Diese Initiative ist daher in einem Land vorherrschender Agrikultur geschehn. Den Physiokraten ver- wandte Ideen finden sich bruchweis bei ihnen vorhergehenden alten Schriftstellern, wie zum Teil in Frankreich selbst bei Boisguillebert. Bei ihnen erst werden sie epochemachendes System.
Der Agrikulturarbeiter, auf das Minimum des Lohns angewiesen, das strict necessaire, reproduziert mehr als dies strict necessaire, und dies Mehr ist die Grundrente, der Mehrwert, der von den Eigentümern der Grund- bedingung der Arbeit, der Natur, angeeignet wird. Es wird also nicht gesagt: Der Arbeiter arbeitet über die für die Reproduktion seines Arbeitsvermögens notwendige Arbeitszeit hinaus; der Wert, den er schafft, ist daher größer als der Wert seines Arbeitsvermögens; oder die Arbeit, die er wiedergibt, ist größer als das Quantum Arbeit, das er in der Form des Salairs erhält; sondern: Die Summe der Gebrauchswerte, die er während der Produktion verzehrt, ist kleiner als die Summe der Gebrauchswerte, die er schafft, und so bleibt ein Surplus von Gebrauchswerten übrig. -
Arbeitete er nur die Zeit, die zur Reproduktion seines eignen Arbeitsvermögens nötig, so bliebe nichts übrig. Aber es wird nur der Punkt festgehalten, daß die Produktivität der Erde ihn befähigt, in seiner Tagesarbeit, die als gegeben vorausgesetzt ist, mehr zu produzieren, als er zu konsumieren braucht, um fortzuexistieren. Dieser Surpluswert erscheint also als Gabe der Natur, durch deren Mitwirkung eine bestimmte Masse organischen Stoffs - Samen von Pflanzen, Anzahl Tiere - die Arbeit befähigt, mehr unorganischen Stoff in organischen zu verwandeln.
Andrerseits ist es als selbstverständlich vorausgesetzt, daß der Grundeigentümer als Kapitalist dem Arbeiter gegenübertritt. Er zahlt ihm sein Arbeitsvermögen, das der Arbeiter ihm als Ware anbietet, und im Ersatz dafür erhält er nicht nur ein Äquivalent, sondern eignet sich die Verwertung dieses Arbeitsvermögens an. Die Entfrem- dung der gegenständlichen Bedingung der Arbeit und des Arbeitsvermögens selbst sind bei diesem Austausch vorausgesetzt.
Vom feudalen Grundeigentümer wird ausgegangen, aber er tritt als Kapitalist auf, als bloßer Warenbesitzer, der die von / ihm gegen Arbeit ausgetauschten Waren verwertet, nicht nur ihr Äquivalent, sondern ein Surplus über dieses Äquivalent zurückerhält, weil er das Arbeitsvermögen nur als Ware zahlt. Als Warenbesitzer tritt er dem freien Arbeiter gegenüber. Oder dieser Grundeigentümer ist wesentlich Kapitalist. Auch in dieser Hinsicht die Wahrheit des physiokratischen Systems, als die Loslösung des Arbeiters von der Erde und vom Grundeigen- tum Grundbedingung für die kapitalistische Produktion und die Produktion des Kapitals ist.
In demselben System daher die Widersprüche: daß ihm, das zuerst den Mehrwert aus der Aneignung fremder Arbeit erklärt und zwar letztre auf Grundlage des Warenaustauschs erklärt, der Wert überhaupt nicht eine Form der gesellschaftlichen Arbeit und der Mehrwert nicht Mehrarbeit ist, sondern der Wert bloßer Gebrauchswert, bloßer Stoff, und der Mehrwert bloße Gabe der Natur, die an die Stelle eines gegebnen Quantums organischen Stoffes ein größres Quantum der Arbeit zurückgibt.
Einerseits ist die Grundrente - also die wirkliche ökonomische Form des Grundeigentums - von seiner feuda- len Hülle abgeschält, auf bloßen Mehrwert, über das Arbeitssalair [hinaus], reduziert. Andrerseits ist wieder feu- dalistisch dieser Mehrwert aus der Natur, nicht aus der Gesellschaft, aus dem Verhältnis zur Erde, nicht aus dem Verkehr abgeleitet. Der Wert selbst löst sich in bloßen Gebrauchswert, daher Stoff auf.
Andrerseits interessiert an diesem Stoff bloß die Quantität, der Uberschuß der produzierten Gebrauchswerte über die konsumierten, also das bloß quantitative Verhältnis der Gebrauchswerte zueinander, der bloße Tausch- wert derselben, der sich schließlich in Arbeitszeit auflöst. Es sind dies alles Widersprüche der kapitalistischen Produktion, die sich aus der feudalen Gesellschaft herausarbeitet und letztere selbst nur mehr bürgerlich inter- pretiert, ihre eigentümliche Form aber noch nicht gefunden hat, wie etwa die Philosophie, die sich erst in der religiösen Form des Bewußtseins herauskonstruiert und damit einerseits die Religion als solche vernichtet, an- drerseits positiv [sich] selbst nur noch in dieser idealisierten, in Gedanken aufgelösten religiösen Sphäre bewegt.
Daher auch in den Konsequenzen, die die Physiokraten selbst ziehn, die scheinbare Verherrlichung des Grund- eigentums in [dessen] ökonomische Verneinung und Bestätigung der kapitalistischen Produktion umschlägt. Einerseits werden alle Steuern auf die Grundrente verlegt, oder das Grundeigentum wird in andren Worten partialiter konfisziert, was die französische / Revolutionsgesetzgebung durchzuführen suchte und das Resultat der Ricardoschen ausgebildeten modernen Ökonomie ist. Indem die Steuer ganz auf die Grundrente gewälzt wird, weil sie der einzige Mehrwert ist - daher jede Besteurung andrer Einkommensformen nur auf einem Um- weg, daher nur auf ökonomisch schädlichem Wege, in einer die Produktion hemmenden Weise das Grundeigen- tum besteuert - wird die Steuer und damit alle Staatsintervention von der Industrie selbst entfernt und diese so von aller Staatsintervention befreit.
Angeblich geschieht dies zum Besten des Grundeigentums, nicht im Interesse der Industrie, sondern des Grundeigentums. Damit zusammenhängend: Laissez faire, laissez aller; die ungehinderte freie Konkurrenz, Beseitigung aller Staatseinmischung, Monopole etc. von der Industrie. Da die Industrie nichts schafft, nur verwandelt in andre Form die ihr von der Agrikultur gegebnen Werte, denen sie keinen neuen Wert zusetzt, sondern als Äquivalent nur in andrer Form die ihr gelieferten Werte zurückgibt, so ist es natürlich wünschens- wert, daß dieser Verwandlungsprozeß ohne Störungen vor sich geht und in der wohlfeilsten Weise; und dies wird nur durch die freie Konkurrenz bewirkt, indem die kapitalistische Produktion sich selbst überlassen wird.
Die Emanzipation der bürgerlichen Gesellschaft von der auf den Trümmern der Feudalgesellschaft errichteten absoluten Monarchie findet also nur im Interesse des in einen Kapitalisten verwandelten und auf bloße Bereich- rung bedachten feudalen Grundeigentümers statt. Die Kapitalisten sind nur Kapitalisten im Interesse des Grundeigentümers, ganz wie die weiter entwickelte Ökonomie sie nur Kapitalisten im Interesse der arbeitenden Klasse sein läßt.
Man sieht also, wie wenig moderne Ökonomen, [wie] Herr Eugène Daire, der Herausgeber der Physiokraten samt seiner gekrönten Preisschrift über dieselben, die Physiokratie verstanden haben, wenn sie ihre spezifischen Sätze über die ausschließliche Produktivität der Agrikulturarbeit, über die Grundrente als den einzigen Mehr- wert, über die hervorragende Stellung der Grundeigentümer im System der Produktion, ohne Zusammenhang und nur zufällig zusammengebracht mit ihrer Proklamation der freien Konkurrenz, dem Prinzip der großen Industrie, der kapitalistischen Produktion finden.
Man begreift zugleich, wie der feudale Schein dieses Systems, ganz wie der aristokratische Ton der Aufklärung, eine Masse von feudalen Herrn zu Schwärmern für ein System und Verbreitern eines Systems machen mußte, das wesentlich das bürgerliche Produktionssystem auf den Ruinen des feudalen proklamierte.
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Theorien über den Mehrwert, MEW 26.1, Berlin (O) 1965, S. 20ff.
Nota. - Der entscheidende Schritt lag hinter ihm: In den Grundrissen hatte Marx den Unterschied zwischen dem Wert der Arbeitskraft und der Produktivkraft der lebendigen Arbeit bemerkt. Die Kritik der Politischen Öko- nomie war in der Sache abgeschlossen - nachdem er doch anfangs lediglich die Politische Ökonomie abschließen wollte!
Ein bloßes dogmatisches Gegenmodell mit ausgiebigen ideologiekritischen Abschweifungen hätte den propa- gandistischen Befürfnissen der sich neu formierenden Arbeiterbewegung genügt, und das war es, was seine Parteigänger auf dem Kontinent sehnlichst von ihm erwarteten. Aber Marx war Wissenschaftler. Durch Ricardo war die Politische Ökonmie erst auf dem Punkt gebracht worden, sie als System darstellen zu können - ein System freilich, das auf einer Aporie beruhte: Unter der Voraussetzung des Wertgesetzes war der Mehr wert nicht zu erklären - und das Kapital nicht ökonomisch zu begründen.
Es galt, zu den begrifflichen Voraussetzungen der ökonomischen Wissenschaften zurückzugehen und in concreto zu zeigen, wie die Begriffe nicht mehr ausreichen, um die beschriebenen Sachverhalte schlüssig zu beschreiben. Ökonomische Theoriebildung ist der - mehr oder minder von jeweiligen Interessen tingierte - Widerschein ihrer Zeit. Sache der Kritik ist eben, den jeweiligen Erkenntnisfortschritt zu scheiden von seinen ideologischen Verbrämungen. Am Ende erwies sich die ideologische Barriere zugleich als die logische, oder die logische Barriere zugleich als absolute ideologische Barriere: der Begriff des Werts und das Dogma vom Wert- gesetz.
Bis dahin aber ist es theoretisch produktiver, die Ideengeschichte nicht als eine Kette von Irrtümern, sondern als eine Entwicklung in und durch Widersprüche aufzufassen. Die Gedanken werden schärfer und die Sachver- halte bleiben in ihrem Recht.
JE
Nota - Das obige Bild gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und ihre Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Ihre Nachricht auf diesem Blog. JE
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