Samstag, 24. November 2018

Lenin über Dialektik.

 
In der Diskussion vom 30. Dezember [1921] sagte [Gen. Bucharin]:

"Genossen, auf viele von Ihnen machen die hier vor sich gehenden Auseinandersetzungen etwa folgenden Eindruck: Da kommen zwei Menschen und fragen einander, was das Tringkglas ist, das auf dem Rednerpult steht. Der eine sagt: 'Das ist ein Glaszylinder, und jeden soll der Bannfluch trefen, der sagt, dass dem nicht so ist!' Der zweite sagt: 'Das Glas, das ist ein Trinkgefäß, und jeden soll der Bannfluch trefen, der sagt, dass dem nicht so ist.' "


Durch dieses Beispiel wollte mir Bucharin, wie der Leser sieht, in populärer Weise erklären, wie schädlich Ein- seitigkeit ist. Ich nehme diese Erläuterung dankbar entgegen, und um meine Dankbarkeit durch die Tat zu be- weisen, antworte ich mit der populären Erklärung dessen, was Eklektizismus zum Unterschied von Dialektik ist.

Ein Glas ist unstreitig sowohl ein Glaszylinder als auch ein Trinkgefäß. Das Glaus bessitzt aber nicht nur diese zwei Merkmale oder Eigenschaften, Seiten, Wechselbeziehungenn und "Vermittelungen"mit der gesamten übri- gen Welt. Ein Glas ist ein schwerer Gegenstand, der ein Wurfinstrument sein kann. Ein Glas kann als Briefbe- schwerer, als Behälter für einen gefangenen Schmetterling dienen, ein Glas kann von Wert sein als Gegenstand von künstlerischeer Gravierung und Zeichnung, ganz unabhängig davon, ob es sich zum Trinken eignet, ob es aus Glas gefertigt, ob seine Form zylindrisch oder nicht ganz zylindrisch ist, und so weiter und dergleich mehr.

Weiter. Brauche ich jetzt ein Glas als Trinkgefäß, so ist es für mich absolut unwichtig zu wissen, ob seine Form ganz zylindrisch und ob es aus Glas gefertigt ist, dagege ist es wichtig, dass der Boden keinen Sprung  aufweist, dass man sich nicht die Lippen verletzt, wenn man dieses Glas benutzt, usw. Brauche ich dagegen ein Glas nicht zum Trinken, sondernzu einer Verwendung, für die jeder Glaszylinder taugt, so genügt / mir auch ein Glas mit einem Sprung im Boden oder sogar ganz ohne Boden sw.

Die formale Logik, auf die man sich in den Schulen beschränkt (und in den unteren Schulklassen - mit gewis- sen Korrekturen - beschränken muss), nimmt die formalen Definitionen, wobei sie sich von dem leiten lässt, was am üblichsten ist oder was am häufigsten in die Augen springt, und beschränkt sich darauf. Nimmt man dabei zwei oder mehrere verschiedenen Definition und vereinigt diese ganz zufällig (sowohl Glaszylinder wie auch Trinkgefäß), so erhalten wir eine eklektische Definition, die auf verschiedene Seiten des Gegenstandes hinweist und sonst nichts.

Die dialektische Logik verlangt, dass wir weitergehen. Um einen Gegenstand wirklich zu kennen, muss man alle seine Seiten, alle Zusammenhänge und "Vermittelungen" erfassen und erforschen. Wir werden das niemals voll- ständig erreichen, die Forderung der Allseitigkeit wird uns aber vor Fehlern und vor Erstarrung bewahren. Das zum ersten. Zweitens verlangt die dialektische Logik, dass man den Gegenstand in seiner Entwicklung, in seine "Selbstbewegung" (wie Hegel manchmal sagt), in seiner Veränderung betrachten. In bezug auf das Glas ist das nicht ohne weiteres klar, aber auch ein Glas bleibt nicht unverändert, besonders aber ändert sich die Bestim- mung des Glases, seine Verwendung, sein Zusammenhang mit der Umwelt. Drittens muss die vollständigen "Defi- nition" eines Gegenstandes die ganze menschliche Praxis sowohl als Kriterium der Wahrheit wie auch als prakti- sche Determinante des Zusammenhangs eines Gegenstandes mit dem, was der Mensch braucht, eingehen. Vier- tens verlangt die dialektische Logik, dass es "eine abstrakte Wahrheit nicht gibt, dass die Wahrheit immer kon- kret ist", wie der versorbene Plachanow - mit Hegel - zu sagen pflegte.
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Lenin, Werke, Bd. 32, Berlin (O) 1970, S. 84f.

Nota. - Wer Lenins peinlich unbelesenen Materialismus oder Empiriokritzismus kennt und auch seine schülerhaft dogmatischen Hegel-Exzerpte aus 1915, wird den Erkenntnisfortschritt aus dem obigen Beitrag zur Gewerk- schaftsdebatte gar nicht hoch genug einschätzen können. Der Eklektizismus, den auch er sich hier zuschulden kommen lässt, ist nicht wie bei Bucharin primär, sondern sekundär, nämlich begründet in seiner "materialisti- schen" objektivistischen Prämisse. Die "Forderung der Allseitigkeit" lässt sich nur technisch-praktisch nicht erfüllen, 'an sich' stünde es wohl fest, wieviele und welche 'Merkmale' und 'Eigenschaften' ein Ding aufweist. Und während es bei Hegel die Begriffe sind, die sich "selbstbewegen", sind es bei Hegel die Dinge - und schlep- pen die Begriffe hinter sich her. Denn mit ihrer Umwelt hängen sie selbst zusammen (physikalisch, nehme ich an), die 'ganze menschliche Praxis' kommt erst "drittens" hinzu - selber sub specie 'Bedürfnis' ein Naturzusam- menhang...

Doch seine Zusammenfassung ist eklektischer, als seine Argumentation selbst es war: Da stand als Kriterium nur die Frage, wozu ich das Ding brauchen will. Merkmale und Eigenschaften 'erscheinen' als Widerhall mensch- licher Absichten. Und das nicht erst, sobald sie, wie das Wasserglas, selber von Menschen produziert wurden.
JE

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