Freitag, 15. Juni 2018

Friedrich Engels war nicht schuld.

 

Den Hintergrund für den stalinistischen "naturalistischen" Wertbegriff* bildet der Mythos von der "Politischen Ökonomie" als einer ubiquitären, 'nomothetischen' Universalwissenschaft mit einem bestimmten, identischen, 'an sich selber' zeitlosen (d. h. nur in der 'Erscheinung' sich entwickelnden) Gegenstand. Und als Beleg dafür kommt in ihren Lehrbüchern sicher wie das Amen in der Kirche stets dieselbe eine und einzige "Stelle" bei... Engels im Anti-Dühring:  "Die politische Ökonomie, im weitesten Sinne, ist die Wissenschaft von den Gesetzen, welche die Produktion und den Austausch des materiellen Lebensunterhalts in der menschlichen Gesellschaft beherrschen." Herrn Eugen Dührings Umwälzung..., MEW 20, S. 136.

Das wird mit viel Krakeel von den Autoren der Lehrbücher als regelrechter wissenschaftlicher Begriff ausposaunt: "In seiner Definition der politischen Ökonomie als Wissenschaft im weiteren Sinn..." Lehrbuch der Politischen Öko- nomie I, Moskaus 1970, S. 38: "Die politische Ükonomie, mit der wir uns heute befassen, ist, um mit Friedrich Engels' Worten zu reden, die politische Ökonomie im weiteren Sinne des Wortes..." (S. 39)

Bei Engels folgt allerdings stehenden Fußes: "Die Bedingungen, unter denen die Menschen produzieren und austauschen, wechseln von Land zu Land, und in jedem Land von Generation zu Generation. Die politische Ökonomie kann also nicht dieselbe sein für alle Länder und für alle geschichtlichen Epochen." a.a.O., S. 136

Das Lehrbuch beeilt sich zu krähen: "Friedrich Engels bezeichnete diese Wissenschaft als politische Ökonomie im engeren Sinne..." a.a.O., S. 38

Engels weiter: "Die politische Ökonomie ist also wesentlich eine historische Wissenschaft. Sie behandelt einen geschichtlichen, d. h. ein stets wechselnden Stoff. Sie untersucht zunächst die einzelnen Gesetze jeder einzelnen Entwicklungsstufe der Produktion und des Austausches und wird erst am Schluss dieser Untersuchung die wenigen für Produktion und Austausch überhaupt geltenden, ganz allgemeinen Gesetze aufstellen." a.a.O., S. 137 

Aber prompt setzt das Lehrbuch nach unde verbessert noch seinen Kronzeugen Engels: "Die politische Öko- nomie im weiteren Sinne des Wortes ist nicht die Summe der politischen Ökonomien im engeren Sinne. Sie ist eine einheitliche Wissenschaft mit einem einheitliche Gegenstand und einheitlicher Methode." a.a.O. S. 39. (Na- türlich erfahren wir nicht, welcher "Gegenstand" und welche "Methode"; etwa die "wenigen... überhaupt gelten- den, ganz allgemeinen Gesetze"?!)

Engels: "Die Feuerländer bringen es nicht zu Massenproduktion und zum Welthandel, ebensowenig wie zur Wechselreiterei oder einem Börsenkrach. Wer die politische Ökonomie Feuerlands unter dieselben Gesetze bringen wollte mit der des heutigen Englands, würde damit augenscheinlich nichts zutage fördern als den allerbanalsten Gemeinplatz." a.a.O., S. 136f.

Also die "einheitliche Methode" am "einheitlichen Gegenstand" ist... "der allerbanalste Gemeinsplatz"?! -  I wo: "Das musst du dialektisch sehn!"

Aber was Engels mit seiner unglücklichen Gelegenheitsformulierung von der "politischen Ökonomie im weite- sten Sinne" sagen wollte, macht er ein paar Sätze weiter unten ganz deutlich: "Die politische Ökonomie als die Wissenschaft von den Bedingungen und Formen, unter denen die verschiednen menschlichen Gesellschaften produziert und ausgetauscht [!], und unter denen sich demgemäß jedesmal die Produkte ausgetauscht [!] haben - die politische Ökonomie in dieser Ausdehnung soll jedoch erst geschaffen werden. Was wir von ökonomi- scher Wissenschaft bis jetzt besitzen, beschränkt sich fast ausschließlich auf die Genesis und Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise: sie beginnt mit der Kritik der Reste der feudalen Produktions- und Aus- tauschformen..., entwickelt dann die Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise und ihrer entsprechenden Austauschformen nach der positiven Seite hin, d. h. nach der Seite, wonach sie die allgemeinen Gesellschafts- zwecke fördern [A. Smith], und schließt ab mit der sozialistischen Kritik der kapitalistischen Produktionsweise, d. h. mit der Darstellung ihrer Gesetze nach der negativen Seite hin [Sismondi vs. Ricardo], mit dem Nachweis, dass diese Produktionsweise durch ihre eigne Entwicklung dem Punkt zutreibt, wo sie sich selbst unmöglich macht. Diese Kritik [K. Marx] weist nach..." a.a.O., S. 138f.

"Um diese Kritik der bürgerlichen Ökonomie vollständig durchzuführen, genügte nicht die Bekanntschaft mit der kapitalistischen Produktion, dem Austausch und der Verteilung. Die ihr vorangegangenen oder noch neben ihr, in weniger entwickelten Ländern bestehenden Formen mussten ebenfalls, wenigstens in den Hauptzügen, untersucht und zur Vergleichung gezogen werden. Eine solche Untersuchung und Vergleichung ist bis jetzt im ganzen und großen nur von Marx angestellt worden." a.a.O., S. 139

Was man also schonmal festhalten kann: Engels jedenfalls war der Meinung, daß Marx eine solche "politische Ökonomie im weitesten Sinne" nicht "geschaffen" habe; sondern vielmehr die Kritik der bürgerlichen Ökonomie als deren Abschluss - und insoweit hat er 'Das Kapital' völlig richtig verstanden; denn er fügt ja ausdrücklich hinzu, dass K. M. da, wo er auf vorkapitalistische Formen eingeht, diese nicht als solche (oder "immanent") darstelle, son- dern lediglich zwecks Vergleichung mit der bürgerlichen 'Form': nämlich um jene "deutlich" darstzustellen.

Was hingegen Engels als "politische Ökonomie im weitesten Sinne" vorschwebt, ist offenbar eine 'allgemeine Wirtschaftsgeschichte vom meterialistischen Standpunkt aus' - von der Marx in den Grundrissen beiläufig be- merkt, dass 'wir' sie 'auch nocht' bewerkstelligen werden, dass sie aber an sich für seinen Zweck überflüssig sei (MEW 42, wo?). - Man fragt sich freilich, welches Erkenntnisinteresse eine solche Arbeit haben würde; eine bloße historische Faktensammlung, eine Art verbesserter Gülich? Abgesehen davon, dass man nicht erkennt, wozu eine solche Fleißarbeit gut sein soll, ist es nicht gerechtfertigt, eine bloße historische Faktensammlung eine "Wissenschaft" zu nennen: eben darum, weil sie nicht imstande ist, ihren Gegenstand zu identifizieren. Eine Wissenschaft ist stets entweder pragmatisch - und läuft dann doch wieder 'nur' auf kommunistische Kritik der historischen Resultate hinaus; oder sie ist "theoretisch" - und kommt dann über die von Engels treffend so genannten "allerbanalsten Gemeinplätze" nicht hinaus - die zudem gar nicht 'faktischer', sondern methodo- logischer Natur sind, wie die völlig zu Recht "unterdrückte" Einleitung von 1857 beweist...

In jedem Fall war es aber eine terminologische Schluderei, die sich gerade noch aus dem Eifer der Polemik entschuldigen lässt, eine solche historische Wissenschaft vom 'Wirtschaften' als "politische" Ökonomie zu bezeichnen. Das hätte dem altphilologisch nicht ganz ungebildeten Freddy ins Auge springen müssen, dass jedem Athener Bürgr jene terminologische Verbindung von πολις und οιϰος als Gipfel der Paradoxie hätte erscheinen müssen! Sowas ähnliches wie "das Öffentlich-Private"! Es ist ihm in der Hitze des Gefechts auch gar nich aufgefallen, dass er ausdrücklich auf allen historischen Stufen "Austausch" als Bedingung der Verteilung voraussetzt!

Denn das bedeutet ja, dass er überall und allezeit sowohl gesellschaftliche Produktion als auch Privateigentum unterstellt! Nun hat er es aber in der wirklich stattgehabten Geschichte entweder mit dem einen oder mit dem andern zu tun - und die singuläre Eigenart der kapitalistischen Gesellschaft ist doch gerade, dass allein hier beides zusammen- kommt, indem auf dem Boden des privaten Eigentums die Produktion - technisch und ökonomisch - einen gesellschaftlichen Charakter angenommen hat.

Denn wo gemeinschaftlich organisierte Prodution stattfindet, werden die Produkte eben nicht getauscht - im "self-sustaining" indischen Dorf. Es ist auch nicht wahr, dass hier unmittelbar "die Arbeiten getauscht" würden: das ist eine idealistische Augenwischerei; hier werden "die Arbeiten" verteilt, und ebenso werden die Produkte verteilt.

Wo indessen nicht gemeinschaftlich, sondern privat-isoliert produziert und hernach ausgetauscht wird - näm- lich der Überschuss, das, was man entbehren kann, und eben nicht das "Nötige" -, da ist es Unfug, von politischer Ökonomie zu reden. Politisch, nämlich "das Gemeinwesen betreffend", ist die οιϰονομια, wo der Reichtum der einzelnen eo ipso Reichtum des Gemeinwesens darstellt, der Reichtum der Privaten zugleich allgemeiner Reich- tum ist; und das kann nur sein, wo es zu Reichtum im Allgemeinen, "Reichtum überhaupt", "Reichtum schlechthin" gekommen ist. Und das ist eben das Geld. Das Geld ist "das reale Gemeinwesen" - in der bürgerlichen Gesell- schaft.

Wo es in den vorbürgerlichen Gesellschaften auftritt, da als "reales (bürgerliches) Gemeinwesen in processu" - was empirisch immer zugleich die Zerstörung des vorhandenen Gemeinwesens bedeutet, sofern es eben noch nicht auf dem Austausch beruht.

Also Gegenstand einer solchen historischen "Politischen Ökonomie" kann nur die wirkliche Geschichte sein, wie sich das Geld in den gewesenen Gesellschaftsformationen an Stelle der traditionellen - gentilizischen, feudalen, "asiatischen" - politischen Gemeinschaften zum "realen Gemeinwesen" der... bürgerlichen Gesellschaft konstituiert hat. Also Gegenstand einer historischen Politischen Ökonomie könnte nur sein: die Bildung des Kapitalverhältnisses auf dem Boden der traditionellen Gesellschaften, aus den vorkapitalistischen Verhältnissen heraus. 

Aber genau das gehörte zur Arbeit der Kritik der Politischen Ökonomie, und ganau diese Arbeit hat Marx auch besorgt; cf. "Formen"-Kapitel. Nur so nämlich konnte er ja auf die Bruch-Stelle in der Entwicklungsgeschichte "des Kapitals" stoßen: den Punkt, wo eben nicht "das Geld" als automatisches Subjekt 'zu Kapital wird'; son- dern durch den (Gewalt)-Akt  der Trennung des Arbeitsvermögens von den Arbeitsmitteln zu Kapital gemacht worden ist - die "sogenannte ursprüngliche Akkumulation".

*

Und nach allem kann es uns nun auch nicht mehr wundern, dass in besagtem Lehrbuch der politischen Ökonomie die "sogenannte ursprüngliche Akkumulation" gar nicht vorkommt...

*) Den Begriff hat Preobraschenki gegen Bucharin geprägt.

13. 12. 89


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