Freitag, 18. November 2016

Krisis und Aktualität der Revolution.


John Martin, The Great Day of His Wrath

Bis hierhin mag man in den mannigfachen Parallelitäten zwischen Wissenschaftslehre und Kritik der Politischen Ökonomie bloße strukturelle Ähnelichkeiten erkennen, die auf ebenso mannigfachen Einzelursachen und also auch auf Zufall beruhen könnten. Für beide Denker aber - für Fichte ausdrücklich, für Marx bewährt durch seine Biographie - war die praktische Philosophie die Urbeberin der theoretischen. Eine wesentliche Überein- stimmung beider Lehren müsste auf einer Entsprechung der postulierten praktischen Zwecke beruhen - in specie in ihrer politischen Geschichtsphilosophie.

C
Primat des Praktischen: die Aktualität der Revolution

Nachdem ich also die Übereinstimmung zwischen der ‘Kritik der politischen Ökonomie’ und der ‘Wissen- schaftslehre’ nach ihrem  P r i n z i p  (‘Standpunkt’) sowohl als nach ihrer  M e t h o d e dargelegt habe, bleiben zwei Fragen:

E r s t e n s, ist es ein reiner  Z u f a l l,  daß Marx ‘zurück zu Fichte’ gegangen ist – ohne es zu ahnen, ohne die ‘Wissenschaftslehre’ überhaupt zu kennen ((von letzterem bin ich überzeugt))?!

Z w e i t e n s, ist es ein noch größerer Zufall, daß  i c h,  nach einem Jahrhundert Marx-Philologie, diesen ’Zufall’  e n t d e c k t  habe, der doch so vielen klugen Köpfen verborgen geblieben war?!

Ein ‘Zufall’ ist es, solange man im Gebiet der theoretischen Philosophie bleibt; tritt man in die praktische Philosophie hinüber, die doch, nach Marx wie nach Fichte, die theoretische erst  b e g r ü n d e n  muß, dann bekommt der ‘Zufall’ Methode: Die theoretische Übereinstimmung beruht nämlich auf einer Übereinstim- mung in der praktischen Stellungnahme Beider zu ihrer Zeit: der  p o l i t i s c h e n  Stellungnahme zur Ak- tualität der Revolution – und kann darum auch nur im Licht dieser Stellungnahme wahrgenommen werden; will sagen, man muß diese praktische Stellungnahme  s e l b e r  vollziehen – in der bloßen Theorie stößt man nie drauf…

Mit ‘Übereinstimmung der praktischen Stellungnahme“ meine ich freilich nicht die rein biographische Ko- inzidenz, daß beide zur ihrer Zeit Propagandisten der Revolution gewesen sind; es ist vielmehr eine Überein- stimmung in ihrer praktischen Philosophie par excellence, nämlich der  G e s c h i c h t s a u f f a s s u n g.

Und in der Tat liegt hier der Schlüssel zu M.’s Bruch mit dem Hegelschen Emanatismus: Die wirkliche Ge- schichte ist ihm nicht jenes Epiphänomen, durch welches die ewig-unvordenkliche Heimkunft der ‘Idee‘ zu sich selber in unsere verkehrte Endlichkeit hinüber wetterleuchtet: nicht ‘Fortschritt im  B e w u ß t s e i n  der Freiheit, sondern die Herstellung  e f f e k t i v e r  Freiheit durch die und für die  e m p i r i s c h e n   I n d i v i d u e n. Die Geschichte erscheint bei Marx wie bei Fichte nicht als eine zyklische Abfolge von  S t u f e n  (wo die letzte zugleich die erste ist, so daß sich eigentlich alles im Kreise dreht und der ‘Fortschnitt‘ nur  S c h e i n  ist), sondern das Zusammenfließen allen individuellen Geschehens in einen  P u n k t,  den Kno- tenpunkt, die Alles entscheidende Krisis: es ist der Moment, an dem die Menschen heraustreten aus ihrer Naturgesetztheit und deren Repräsentationen innerhalb der menschlichen Gesellschaft selbst, in die Selbst- bestimmung; Freiheit ist nicht die  E i n s i c h t  in die Notwendigkeit, sondern deren  E n d e.

Und die  S c h w e l l e,  die das Reich der Freiheit vom Reich der Notwendigkeit trennt — oder wo sie an einander stoßen… —, das ist für Marx wie für Fichte die  b ü r g e r l i c h e   G e s e l l s c h a f t.*  Hier muß sich entscheiden, ob die empirischen Menschen in der Tat  S u b j e k t e  der Geschichte werden sollen oder nicht – und erst von hier  aus läßt sich — rückwirkend — entscheiden,  o b  sie sich ‘immer schon’ auf die- sem Weg befunden haben: Die bürgerliche Gesellschaft ist die  K r i s i s,  die erst das  U r t e i l  darüber fällt, ob die ganze Geschichte ein  F o r t s c h r i t t  war oder nicht.

Für Marx wie für Fichte ist die bürgerliche Gesellschaft die revolutionäre ‘Situation’ par excellence, und nur als solche gibt sie der Vergangenheit Sinn. Die praktische Philosophie von Marx wie von Fichte steht unterm Postulat der  R e v o l u t i o n   i n   P e r m a n e n z  — und in diesem praktischen Motiv ist ihrerseits die ‚Tathandlung‘ als theoretisches Prinzip begründet 

*) vgl. Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters.




 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen