Freitag, 4. November 2016
Zwei radikale Pragmatiker.
"...obgleich es einem Schaf schwerlich als eine seiner nützlichen Eigenschaften vorkommen dürfte, vom Menschen essbar zu sei..." K. Marx, Randglossen zu A. Wagners Lehrbuch...*
Fichte, Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre ** : Der "kritische", "transzendentale" Idealismus unterscheide sich vom transzendenten Idealismus dadurch, dass es nicht, wie jener, eine völlig frei und willkürlich handelnde Intelligenz annehme (in der das Gefühl der Notwendigkeit also nie vorkomme; und, beiläufig, sich das Faktum der Übereinkunft vieler Intelligenzen schlechterdings nicht erklären lässt!), sondern eine nach notwendigen Gesetzen handelnde Intelligenz: das Transzendentale, das der wirklichen Tätigkeit der Intelligenz (vulgo "Erfahrung") vorausliegende "Apriori": Raum und Zeit, die Kategorien, die Logik selbst...
Der "historische Materialismus" nun führt jenes Transzendentale seinerseits zurück auf - in der Zeit vergangenes - reales Handeln, macht gegenwärtige "Apriori" zum Produkt eines Vergangenen, zum Aposteriori (in der Zeit, aber nicht logisch!).
Und nun könnte das eilige Denken einen viciösen Zirkel annehmen, kokett geschürzt als Regressus in infinitum,* weil nämlich immer wieder doch erst "gehandelt" wurde, aber dann doch wieder schon "nach Gesetzen"; was sich dann am Ende - wenn denn ein solches Ende gedacht werden soll - doch nur als ein Gesetz im Gegenstand denken lassen solle, auf den, mittels dessen gehandelt wird: Es sei doch, nach allem "kritischen" Aufgebot an Scharfsinn, am Ende allemal die Beschaffenheit der Dinge an sich selbst, die dem "freien" Handeln das Gesetz diktiere, und... außer Spesen nichts gewesen!
Ja so: Dann gehört es also tatsächlich zu den Eigenschaften des Hammels, vom Menschen essbar zu sein? Und das schon vor Millionen Jahren, als an Menschen, jedenfalls fleischfressende, noch gar nicht zu "denken" war - am allerwenigsten hammelseits...
Also dass die Kartoffel essbar, insofern sie nämlich schälbar und kochbar ist, ist nicht ihre Bestimmung, sondern meine, weil ich sie zu meiner Nahrung bestimmt habe, und nur unter dieser wirklichen, also allemal auch logischen Voraussetzung "ist" sie schälbat und kochbar, schreibt sie meinem Handeln "ihr" Gesetz vor: sofern ich mich nämlich allbereits zu diesem Handeln bestimmt habe, werde ich folgerichtig auch so und so handeln müssen...
Aber das wenigstens liegt doch ein für allemal in der Beschaffenheit der Kartoffel an sich, in ihrer schlechthin- nigen Kartoffelheit unabänderlich beschlossen?
Der Pflasterstein dort, der ist doch realiter nicht für mich essbar, "weil" er nicht schälbar und nicht kochbar ist?!
Na gut, aber nicht-schälbar und nicht-kochbar ist er auch erst in Hinblick auf meinen Verzehr, in Hinblick auf mein Bedürfnis; wirklich erst in Hinblick darauf; denn bevor nicht einer - ihn oder sonstwas - essen wollte, war er zwar auch nicht essbarer als jetzt; aber er war auch nicht nicht-essbar: Er war keins von beiden, auf diesem Auge war er "an sich" blind - wie er es auf allen andern auch ist.
*) MEW 19, S. 363
**) SW I, S. 441
aus e. Notizbuch, 14. 11. 1986
Nachtrag. - Vor 1989/70 war es ein Skandalon, Marx nicht hegelisch und auch nicht "materialistisch" zu er- klären, sondern transzendentalphilosophisch; während sich umgekehrt niemend um die richtige Interpretation Fichtes scherte. Heute kann jeder Marx auslegen wie er mag, aber für Fichte interessiert man sich jetzt sogar jenseits des Atlantiks.
Auch ich verstand damals von Marx viel mehr als von Fichte, in den ich mich erst jahrelang hineindenken musste. Ausschlaggebend war die bei beiden Denkern radikale Vorrang des Praktischen, logisch gesprochen: des Pragmatischen. So in obigen Notizen.
In Hinblick auf Fichte war mir dieser radikale Pragmatismus aber noch gar nicht klar. Mir war nicht klar, dass Fichte die Wissenschaftslehre keineswegs aus selbstgeschnitzten Prämissen konstruiert, sondern beginnt bei dem, was vorfindlich ist: 'Es gibt Vernunft.'
Diese wird analytisch auf ihre allererste, einzige Prämisse reduziert. Aus dieser Prämisse wird in einem zweiten Gang das historisch gegebene System der Vernunft Schritt für Schritt rekonstruiert. Wenn da von 'notwendig' die Rede ist, ist keine Kausalkette gemeint (die ihr Gesetz 'vor sich' gehabt haben müsste), sondern ein Um-zu: Es werden jene Schritte 'notwendig', ohne die das tatsächliche Ergebnis - das wirkliche System der Vernunft - nicht erreichbar wäre.
Was erklärt wird, ist nicht die physikalische Welt, sondern die Art und Weise, wie wir zu dem Bild gelangen, das wir uns von ihr machen. Es wird an keiner Stelle ein spiritueller Akteur in Anspruch genommen, es sind überall nur wirkliche Menschen, die wirklich handeln - in Verfolgung ihrer Zwecke.
So wenig wie Fichte einen übersinnlichen Handelnden brauchte, braucht Marx aber eine selbsttätige Materie.
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