Donnerstag, 6. August 2015

Logische und historische Darstellung II: Die Entdeckung des Mehrwerts.


Horst Lünser

Wie ist nun sein Werth bestimmt? Durch die vergegenständlichte Arbeit, die in seiner Waare enthalten ist. Diese Waare existirt in seiner [des ArbeitersLebendigkeit. Um sie von heute auf morgen zu erhalten – von der Arbeiterklasse, also dem Ersatz für wear und tear, damit sie sich als Klasse erhalten kann, haben wir es noch nicht zu thun, da der Arbeiter hier als Arbeiter, daher als vorausgeseztes perennirendes Subjekt dem Capital gegenübersteht, noch nicht als vergängliches Individuum der Arbeiterart – muß er bestimmte Masse Lebensmittel verzehren, das aufgezehrte Blut ersetzen etc. Er erhält nur ein Equivalent. Also morgen, nach vollbrachtem Austausch – und wenn er den Austausch formell beendigt hat, führt er ihn erst aus im Productionsprocess – existirt seine Arbeitsfähigkeit in derselben Weise wie zuvor: er hat ein exaktes Equivalent erhalten, denn der Preiß, den er erhalten hat, läßt ihn im / Besitz desselben Tauschwerths den er vorher hatte. 

Das Quantum vergegenständlichte Arbeit, das in seiner Lebendigkeit enthalten ist, ist ihm vom Capital gezahlt worden. Er hat es consumirt und da es nicht als Ding existirte, sondern als Fähigkeit in einem Lebendigen, kann er, von wegen der spezifischen Natur seiner Waare – der spezifischen Natur des Lebensprocesses – den Tausch von neuem eingehn. Daß ausser der in seiner Lebendigkeit vergegenständlichten Arbeitszeit – d. h. der Arbeitszeit, die nöthig war, um die nöthigen Producte für die Erhaltung seiner Lebendigkeit zu zahlen, noch weitre Arbeit vergegenständlicht ist in seinem unmittelbaren Dasein, nämlich die Werthe, die er consumirt hat, um eine bestimmte Arbeitsfähigkeit, eine besondre Geschicklichkeit zu erzeugen – und deren Werth zeigt sich darin, zu welchen Productionskosten ein ähnliches bestimmtes Arbeitsgeschick producirt werden kann – geht uns hier noch nicht an, wo es sich nicht um eine besonders qualificirte Arbeit, sondern um Arbeit schlechthin, einfache Arbeit handelt. 

Wäre ein Arbeitstag nöthig um einen Arbeiter einen Arbeitstag am Leben zu erhalten, so existirte das Capital nicht, weil der Arbeitstag sich gegen sein eignes Product austauschen würde, also das Capital als Capital sich nicht verwerthen und daher auch nicht erhalten kann. Die Selbsterhaltung des Capitals ist seine Selbstverwerthung. Müßte das Capital um zu leben, auch arbeiten, so erhielte es sich nicht als Capital, sondern als Arbeit. Das Eigenthum von Rohstoffen und Arbeitsinstrumenten wäre nur nominell: sie gehörten öko||23|nomisch grade dem Arbeiter so weit als sie dem Capitalisten gehörten, da sie ihm nur Werth schafften, so weit er selbst Arbeiter wäre. Er verhielte sich daher nicht zu ihnen als Capital, sondern als einfachem Stoff und Mittel der Arbeit, wie der Arbeiter selbst es im Productionsprocess thut. 

Ist dagegen z. B. nur ein halber Arbeitstag nöthig, um einen Arbeiter einen ganzen Arbeitstag am Leben zu erhalten, so ergiebt sich der Mehrwerth des Products von selbst, weil der Capitalist im Preiß nur einen halben Arbeitstag bezahlt hat und im Product einen ganzen vergegenständlicht erhält; also für die zweite Hälfte des Arbeitstags Nichts ausgetauscht hat. Nicht der Austausch, sondern ein Process, worin er ohne Austausch vergegenständlichte Arbeitszeit, d. h. Werth erhält, kann ihn allein zum Capitalisten machen. Der halbe Arbeitstag kostet dem Capital Nichts; es erhält also einen Werth für den es kein Equivalent gegeben hat. Und die Vermehrung der Werthe kann nur dadurch stattfinden, daß ein Werth über das Equivalent hinaus erhalten, also geschaffen wird. 

Mehrwerth ist überhaupt Werth über das Equivalent hinaus. Equivalent seiner Bestimmung nach ist nur die Identität des Werths mit sich. Aus dem Equivalent heraus kann daher nie der Mehrwerth entsprießen; also auch nicht ursprünglich aus der Circulation; er muß aus dem Productionsprocess / des Capitals selbst entspringen. Die Sache kann auch so ausgedrückt werden: Wenn der Arbeiter nur einen halben Arbeitstag braucht, um einen ganzen zu leben, so braucht er, um seine Existenz als Arbeiter zu fristen, nur einen halben Tag zu arbeiten. Die zweite Hälfte des Arbeitstags ist Zwangsarbeit; surplus Arbeit. 

Was auf Seite des Capitals als Mehrwerth erscheint, erscheint exact auf Seite des Arbeiters als Mehrarbeit über sein Bedürfniß als Arbeiter hinaus, also über sein unmittelbares Bedürfniß zur Erhaltung seiner Lebendigkeit hinaus. Die grosse geschichtliche Seite des Capitals ist diese Surplusarbeit, überflüssige Arbeit vom Standpunkt des blosen Gebrauchswerths, der blosen Subsistenz aus zu schaffen, und seine historische Bestimmung ist erfüllt, sobald einerseits die Bedürfnisse so weit entwickelt sind, daß die Surplusarbeit über das Nothwendige hinaus selbst allgemeines Bedürfniß ist, aus den individuellen Bedürfnissen selbst hervorgeht – andrerseits die allgemeine Arbeitsamkeit durch die strenge Disciplin des Capitals, wodurch die sich folgenden Geschlechter durchgegangen sind, entwickelt ist als allgemeiner Besitz des neuen Geschlechts – endlich durch die Entwicklung der Productivkräfte der Arbeit, die das Capital in seiner unbeschränkten Bereicherungssucht und den Bedingungen, worin es sie allein realisiren kann beständig voranpeitscht, so weit gediehen ist, daß der Besitz und die Erhaltung des allgemeinen Reichthums einerseits nur eine geringre Arbeitszeit für die ganze Gesellschaft erfordert und die arbeitende Gesellschaft sich wissenschaftlich zu dem Process ihrer fortschreitenden Reproduction, ihrer Reproduction in stets größrer Fülle verhält; also die Arbeit, wo der Mensch in ihr thut, was er Sachen für sich thun lassen kann, aufgehört hat. 

Capital und Arbeit verhalten sich demnach hierin wie Geld und Waare; ist das eine die allgemeine Form des Reichthums, die andre nur die Substanz, die unmittelbare Consumtion bezweckt. Als das rastlose Streben nach der allgemeinen Form des Reichthums treibt aber das Capital die Arbeit über die Grenzen seiner Naturbedürftigkeit hinaus und schafft so die materiellen Elemente für die Entwicklung der reichen Individualität, die ebenso allseitig in ihrer Production als Consumtion ist und deren Arbeit daher auch nicht mehr als Arbeit, sondern als volle Entwicklung der Thätigkeit selbst erscheint, in der die Naturnothwendigkeit in ihrer unmittelbaren Form verschwunden ist; weil an die Stelle des Naturbedürfnisses ein geschichtlich erzeugtes getreten ist. Daher ist das Capital productiv; d. h. ein wesentliches Verhältniß für die Entwicklung der gesellschaftlichen Productivkräfte. Es hört erst auf solches zu sein, wo die Entwicklung dieser Productivkräfte selbst an dem Capital selbst eine Schranke findet.
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Grundrisse, MEGA II/1.1, S. 239ff. [MEW 42, S.242ff.]


Nota.
Der Mehrwert steckt nicht im Begriff des Werts. Im Begriff des Werts steckt die Äquivalenz. Das Mehr ist auch nicht in einem Umschlagen des Gebrauchs- in den Tauschwert verborgen. Da schlägt gar nichts um. Das Geheimnis ist lediglich, dass das Arbeitsvermögen für den Arbeiter selbst einen Gebrauchswert gar nicht hat - weil er nicht über die Mittel verfügt, es in austauschbaren Produkten zu vergegenständlichen. Den einzigen Gebrauch, den er davon machen kann, ist, es selbst gegen Geld einzutauschen; ist, es zu Tauschwert zu ma- chen. 

Das sind keine Begriffe, sondern tätige Verhältnisse zwischen wirklichen Menschen, die auf gegenständlichen Voraussetzungen beruhen. Ein historischer Fakt, der auf vorangegangenen Fakten aufgebaut ist. Das ist keine Logik und nicht einmal Dialektik, das sind wirkliche Handlungen. Nur wenn man von ihnen abstrahiert, wenn man ihre Ergebnisse aus der Zeit herauslöst und in Begriffen verdinglicht, sieht es so aus, als würden Begriffe sich mal so, mal so widersprechen. Aber das ist nur das ferne Wetterleuchten von wirklichen Gegensätzen, die sich geschichtlich zugetragen haben.
JE



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