Montag, 14. September 2015

Kokettiert er bloß?

Julie Kent

Die Analyse der Waare hat gezeigt, daß sie ein Doppeltes ist, Gebrauchswerth und Werth. Damit ein Ding daher Waarenform besitze, muß es Doppelform besitzen, die Form eines Gebrauchswerths und die Form des Werths. Die Form des Gebrauchswerths ist die Form des Waarenkörpers selbst, Eisen, Leinwand u. s. w., seine handgreiflich sinnliche Daseinsform. Es ist dieß die Naturalform der Waare. Die Werthform der Waare ist dagegen ihre gesellschaftliche Form.

Wie wird der Werth einer Waare nun ausgedrückt? Wie gewinnt er also eigne Erscheinungsform? Durch das Verhältniß verschiedner Waaren. Um die in solchem Verhältniß enthaltene Form richtig zu analysiren, müssen wir von ihrer einfachsten, unentwickeltsten Gestalt ausgehn. Das einfachste Verhältniß einer Waare ist offenbar ihr Verhältniß zu einer einzigen, andren Waare, gleichgültig welcher. Das Verhältniß zweier Waaren liefert daher den einfachsten Werthausdruck für eine Waare. 

I. Einfache Werthform.


20 Ellen Leinwand = 1 Rock oder: 20 Ellen Leinwand sind 1 Rock werth.

Das Geheimniß aller Werthform muß in dieser einfachen Werthform stecken. Ihre Analyse bietet daher die eigentliche Schwierigkeit. /


§. 1. Die beiden Pole des Werthausdrucks:

Relative Werthform und Aequivalentform.

In dem einfachen Werthausdruck spielen die zwei Waarenarten Leinwand und Rock offenbar zwei verschiedne Rollen. Die Leinwand ist die Waare, welche ihren Werth in einem von ihr verschiedenartigen Waarenkörper, dem Rock, ausdrückt. Andrerseits dient die Waarenart Rock als das Material, worin Werth ausgedrückt wird. Die eine Waare spielt eine aktive, die andre eine passive Rolle. Von der Waare nun, welche ihren Werth in einer andren Waare ausdrückt, sagen wir: Ihr Werth ist als relativer Werth dar- gestellt, oder sie befindet sich in relativer Werthform. Von der andern Waare dagegen, hier dem Rock, die zum Material des Werthausdrucks dient, sagen wir: Sie funktionirt als Aequivalent der ersten Waare, oder befindet sich in der Aequivalentform.

Ohne nun noch tiefer zu analysiren, sind von vorn herein folgende Punkte klar:

a) Die Unzertrennlichkeit der beiden Formen.


Relative Werthform und Aequivalentform sind zu einander gehörige, sich wechselseitig bedingende, unzertrennliche Momente desselben Werthausdrucks. 

b) Die Polarität der beiden Formen. 


Andrerseits sind diese beiden Formen einander ausschließende oder ent- gegengesetzte Extreme, d. h. Pole, desselben Werthausdrucks. Sie vertheilen sich stets auf die verschiedenen Waaren, die der Werthausdruck auf einander bezieht. Ich kann z. B. den Werth der Leinwand nicht in Leinwand aus- drücken. 20 Ellen Leinwand = 20 Ellen Leinwand ist kein Werthausdruck, sondern drückt nur ein bestimmtes Quantum des Gebrauchsgegenstands Leinwand aus. Der Werth der Leinwand kann also nur in andrer Waare, d. h. nur relativ ausgedrückt werden. Die relative Werthform der Leinwand unterstellt also, daß irgend eine andre Waare sich ihr gegenüber in der Aequivalentform befindet. Andrerseits, diese andre Waare, hier der Rock, die als Aequivalent der Leinwand figurirt, sich also in Aequivalentform befindet, kann sich nicht gleichzeitig in relativer Werthform befinden. Nicht sie drückt ihren Werth aus. Sie liefert nur dem Werthausdruck andrer Waare das Material. /

Allerdings schließt der Ausdruck: 20 Ellen Leinwand = 1 Rock oder: 20 Ellen Leinwand sind 1 Rock werth, auch die Rückbeziehung ein: 1 Rock = 20 Ellen Leinwand oder: 1 Rock ist 20 Ellen Leinwand werth. Aber so muß ich doch die Gleichung umkehren, um den Werth des Rocks relativ auszudrücken, und sobald ich das thue, wird die Leinwand Aequivalent statt des Rockes. Dieselbe Waare kann also in demselben Werthausdruck nicht gleichzeitig in beiden Formen auftreten. Diese schließen sich vielmehr polarisch aus.

Denken wir uns Tauschhandel zwischen Leinwandproducent A und Rockproducent B. Bevor sie Handels einig werden, sagt A: 20 Ellen Lein- wand sind 2 Röcke werth (20 Ellen Leinwand = 2 Röcke), B dagegen: 1 Rock ist 22 Ellen Leinwand werth (1 Rock = 22 Ellen Leinwand). Endlich, nach- dem sie lang gemarktet, stimmen sie überein. A sagt: 20 Ellen Leinwand sind 1 Rock werth, und B sagt: 1 Rock ist 20 Ellen Leinwand werth. Hier befinden sich beide, Leinwand und Rock, gleichzeitig in relativer Werthform und in Aequivalentform. Aber, notabene, für zwei verschiedene Personen und in zwei verschiedenen Werthausdrücken, welche nur gleichzeitig ins Leben treten. Für A befindet sich seine Leinwand, – denn für ihn geht die Initiative von seiner Waare aus – in relativer Werthform, die Waare des Andren, der Rock dagegen, in Aequivalentform. Umgekehrt vom Standpunkt des B. Dieselbe Waare besitzt also niemals, auch nicht in diesem Fall, die beiden Formen gleichzeitig in demselben Werthausdruck. 

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Das Kapital I, MEGA II/5, Anhang: Die Wertform; S. 626ff. 


Nota. - Wie ist es: 'Kokettiert' er bloß mit Hegels 'Ausdrucksweise', oder hat er dessen Methode 'umgestülpt', um ihren rationellen Kern freizulegen? 

Es sind hier nicht 'Begriffe', die in einander 'umschlagen'; aber dafür sind es 'Waren', die sich gegen einander 'tau- schen'; mit andern Worten, 'Formen' 'wechseln'. Ist das lediglich eine (gezierte) Redeweise, oder meint das wirklich so, wie er es sagt?

Er war ein kluger Mann und ein gewissenhafter Autor, also bleibt er dem Leser diese Aufklärung nicht lange schuldig: "Denken wir uns Tauschhandel zwischen Leinwandproducent A und Rockproducent B. Bevor sie Handels einig werden, sagt A...". Das war doch von Anbeginn klar: Nicht Waren tauschen einander, sondern Produzenten tauschen mit einander.

Er hat kokettiert, leider. Denn das Verständnis hat er mehreren Generationen schwergemacht, indem er den Wortklaubern freie Bahn gegeben hat. Doch muss man einräumen: Er hat sich selber das Verstehen der Wertproblems ja nicht leicht gemacht; da hatte er noch nicht genügend Abstand, um es in einfacherer Weise darzustellen.
JE



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