Dienstag, 15. September 2015

Der Sündenfall in der politischen Ökonomie.

Tintoretto, Sündenfall

Man hat gesehn, wie Geld in Kapital verwandelt, mit dem Kapital Mehrwerth und aus dem Mehrwerth mehr Kapital gemacht wird. Indeß setzt die Accumulation des Kapitals den Mehrwerth, der Mehrwerth die kapitalisti- sche Produktion, diese aber das Vorhandensein größerer Kapitalmassen in den Händen von Waarenproducenten voraus. Der ganze Prozeß scheint also eine der kapitalistischen Accumulation vorausgehende „ursprüngliche“ Accumulation („previous accumulation“ bei Adam Smith) zu unterstellen, eine Accumulation, welche nicht das Resultat der kapitalistischen Produktionsweise ist, sondern ihr Ausgangspunkt. 

Diese ursprüngliche Accumulation spielt in der politischen Oekonomie ungefähr dieselbe Rolle wie der Sündenfall in der Theologie. Adam biß in den Apfel und damit kam über das Menschengeschlecht die Sünde. Ihr Ursprung wird erklärt, indem er als Anekdote der Vergangenheit erzählt wird. In einer längst verflossenen Zeit gab es auf der einen Seite eine fleißige Elite und auf der andern faulenzende Lumpen. So kam es, daß die ersten / Reichthum accumulirten und die letzteren schließlich nichts zu verkaufen hatten als ihre eigne Haut. Und von diesem Sündenfall datirt die Armuth der großen Masse, die immer noch, aller Arbeit zum Trotz, nichts zu verkaufen hat als sich selbst, und der Reichthum der Wenigen, der fortwährend wächst, obgleich sie längst aufgehört haben zu arbeiten. 

Solche fade Kinderei kaut Herr Thiers z. B. noch mit staatsfeierlichem Ernst, zur Vertheidigung der propriété, den einst so geistreichen Franzosen vor. Aber sobald die Eigenthumsfrage ins Spiel kommt, wird es heilige Pflicht, den Standpunkt der Kinderfibel als den allen Altersklassen und Entwicklungsstufen allein gerechten festzuhalten. In der wirklichen Geschichte spielen bekanntlich Eroberung, Unterjochung, Raubmord, kurz Gewalt die große Rolle. In der sanften politischen Oekonomie herrschte von jeher die Idylle. Recht und „Arbeit“ waren von jeher die einzigen Bereicherungsmittel, natürlich mit jedesmaliger Ausnahme von „diesem Jahr“. In der That sind die Methoden der ursprünglichen Accumulation alles andre, nur nicht idyllisch. 

Geld und Waare sind nicht von vornherein Kapital, so wenig wie Produktions- und Lebensmittel. Sie bedürfen der Verwandlung in Kapital. Dieser Verwandlungsprozeß selbst kann aber nur unter bestimmten Um- ständen vorgehn. Sie spitzen sich dahin zusammen: Zweierlei sehr ver- schiedne Sorten von Waarenbesitzern müssen sich gegenüber und in Kontakt treten, einerseits Eigner von Geld, Produktions- und Lebensmitteln, welche die von ihnen geeignete Werthsumme verwerthen wollen durch Ankauf fremder Arbeitskraft; andrerseits freie Arbeiter, Verkäufer der eignen Arbeitskraft und daher Verkäufer von Arbeit. Freie Arbeiter in dem Doppelsinn, daß sie weder selbst unmittelbar zu den Produktionsbedingungen gehören, wie Sklaven, Leibeigne u. s. w., noch auch die Produktionsbedingungen ihnen gehören, wie beim selbstwirthschaftenden Bauer u. s. w., sie davon vielmehr frei, los und ledig sind. 

Mit dieser Polarisation des Waarenmarkts sind die Grundbedingungen der kapitalistischen Produktion gegeben. Das Kapitalverhältniß setzt die Scheidung zwischen den Arbeitern und dem Eigenthum an den Verwirklichungsbedingungen der Arbeit voraus. Sobald die kapitalistische Produktion einmal auf eignen Füßen steht erhält sie nicht nur jene Scheidung, sondern reproducirt sie auf stets wachsender Stufen- leiter. Der Prozeß, der das Kapitalverhältniß schafft, kann also nichts anders sein als der Scheidungsprozeß des Arbeiters von den Arbeitsbedingungen, ein Prozeß, der einerseits die gesellschaftlichen Lebens- und Produktionsmittel in Kapital verwandelt, andrerseits die unmittelbaren Producenten in Lohnarbeiter. Die s. g. ursprüngliche Accumulation ist also nichts als der historische Scheidungsprozeß von Producent und Produktionsmittel. Er erscheint als „ursprünglich“, weil er die Vorgeschichte des Kapitals und der ihm entsprechenden Produktionsweise bildet. 
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Das Kapital I, MEGA II/5; S. 574f



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