Mittwoch, 26. Dezember 2018

Über Trittbrettfahrer.

 
Karl Marx/Friedrich Engels
aus
Zirkularbrief an Bebel, Liebknecht, Bracke u.a.

... Es ist eine im Gang der Entwicklung begründete, unvermeidliche Erscheinung, daß auch Leute aus der bis- her herrschenden Klasse sich dem kämpfenden Proletariat anschließen und ihm Bildungselemente zuführen. Das haben wir schon im "Manifest" klar ausgesprochen. Es ist aber hierbei zweierlei zu bemerken:

Erstens müssen diese Leute, um der proletarischen Bewegung zu nutzen, auch wirkliche Bildungselemente mit- bringen. Dies ist aber leider bei der großen Mehrzahl der deutschen bürgerlichen Konvertiten nicht der Fall. Weder die "Zukunft" noch die "Neue Gesellschaft" haben irgend etwas gebracht, wodurch die Bewegung um einen Schritt weitergekommen wäre. An wirklichem, tatsächlichem oder theoretischem Bildungsstoff ist da ab- soluter Mangel. Statt dessen Versuche, die sozialistischen, oberflächlich angeeigneten Gedanken in Einklang zu bringen mit den verschiedensten theoretischen Standpunkten, die die Herren von der Universität oder sonstwo- her mitgebracht und von denen einer noch verworrener war als der andre, dank dem Verwesungsprozeß, in dem sich die Reste der deutschen Philosophie heute befinden. Statt die neue Wissenschaft vorerst selbst gründlich zu studieren, stutzte sich jeder sie vielmehr nach dem mitgebrachten Standpunkt / zurecht, machte sich kurzer- hand eine eigne Privatwissenschaft und trat gleich mit der Prätension auf, sie lehren zu wollen. Daher gibt es unter diesen Herren ungefähr soviel Standpunkte wie Köpfe; statt in irgend etwas Klarheit zu bringen, haben sie nur eine arge Konfusion angerichtet - glücklicherweise fast nur unter sich selbst. Solche Bildungselemente, deren erstes Prinzip ist, zu lehren, was sie nicht gelernt haben, kann die Partei gut entbehren.

Zweitens. Wenn solche Leute aus andern Klassen sich der proletarischen Bewegung anschließen, so ist die erste Forderung, daß sie keine Reste von bürgerlichen, kleinbürgerlichen etc. Vorurteilen mitbringen, sondern sich die proletarische Anschauungsweise unumwunden aneignen. Jene Herren aber, wie nachgewiesen, stecken über und über voll bürgerlicher und kleinbürgerlicher Vorstellungen. In einem so kleinbürgerlichen Land wie Deutsch- land haben diese Vorstellungen sicher ihre Berechtigung. Aber nur außerhalb der sozialdemokratischen Arbeiter- partei. Wenn die Herren sich als sozialdemokratische Kleinbürgerpartei konstituieren, so sind sie in ihrem vol- len Recht; man könnte mit ihnen verhandeln, je nach Umständen Kartell schließen etc. Aber in einer Arbeiterpar- tei sind sie ein fälschendes Element. 


Sind Gründe da, sie vorderhand darin zu dulden, so besteht die Verpflichtung, sie nur zu dulden, ihnen keinen Einfluß auf die Parteileitung zu gestatten, sich bewußt zu bleiben, daß der Bruch mit ihnen nur eine Frage der Zeit ist. Diese Zeit scheint übrigens gekommen. Wie die Partei die Verfasser dieses Artikels noch länger in ihrer Mitte dulden kann, erscheint uns unbegreiflich. Gerät aber solchen Leuten gar die Parteileitung mehr oder weni- ger in die Hand, wo wird die Partei einfach entmannt, und mit der proletarischen Schneid ist's am End.
 

Was uns betrifft, so steht uns nach unsrer ganzen Vergangenheit nur ein Weg offen. Wir haben seit fast 40 Jah- ren den Klassenkampf als nächste treibende Macht der Geschichte, und speziell den Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat als den großen Hebel der modernen sozialen Umwälzung hervorgehoben; wir kön- nen also unmöglich mit Leuten zusammengehn, die diesen Klassenkampf aus der Bewegung streichen wollen. Wir haben bei der Gründung der Internationalen ausdrücklich den Schlachtruf formuliert: Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiterklasse selbst sein. Wir können also nicht zusammengehn mit Leuten, die es offen aussprechen, daß die Arbeiter zu ungebildet sind, sich selbst zu befreien und erst von oben herab befreit werden müssen durch philanthropische Groß- und Kleinbürger. Wird das neue Parteiorgan eine Hal- tung annehmen, die den Gesinnungen jener Herren entspricht, bürgerlich ist und / nicht proletarisch, so bleibt uns nichts übrig, so leid es uns tun würde, als uns öffentlich dagegen zu erklären und die Solidarität zu lösen, mit der wir bisher die deutsche Partei dem Ausland gegenüber vertreten haben. Doch dahin kommt's hoffent- lich nicht.

Geschrieben am 17./18. September 1879.
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in MEW 19, Berlin (O) 1962, S. 164ff.

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