Sonntag, 23. Dezember 2018

Bonapartismus II: Die Parzellenbauern

J.-F. Millet

Und dennoch schwebt die Staatsgewalt nicht in der Luft. Bonaparte vertritt eine Klasse, und zwar die zahl- reichste Klasse der französischen Gesellschaft, die Parzellenbauern.

Wie die Bourbons die Dynastie des großen Grundeigentums, wie die Orléans die Dynastie des Geldes, so sind die Bonapartes die Dynastie der Bauern, d.h. der französischen Volksmasse. Nicht der Bonaparte, der sich dem Bourgeoisparlamente unterwarf, sondern der Bonaparte, der das Bourgeoisparlament auseinanderjagte, ist der Auserwählte der Bauern. Drei Jahre war es den Städten gelungen, den Sinn der Wahl vom 10. Dezember zu ver- fälschen und die Bauern um die Wiederherstellung des Kaiserreichs zu prellen. Die Wahl vom 10. Dezember 1848 ist erst erfüllt worden durch den coup d’état vom 2. Dezember 1851.

Die Parzellenbauern bilden eine ungeheure Masse, deren Glieder in gleicher Situation leben, aber ohne in man- nigfache Beziehung zueinander zu treten. Ihre Produktionsweise isoliert sie voneinander, statt sie in wechselsei- tigen Verkehr zu bringen. Die Isolierung wird gefördert durch die schlechten französischen Kommunikations- mittel und die Armut der Bauern. Ihr Produktionsfeld, die Parzelle, läßt in seiner Kultur keine Teilung der Ar- beit zu, keine Anwendung der Wissenschaft, also keine Mannigfaltigkeit der Entwicklung, keine Verschieden- heit der Talente, keinen Reichtum der gesellschaftlichen Verhältnisse. 


Jede einzelne Bauernfamilie genügt beinah sich selbst, produziert unmittelbar selbst den größten Teil ihres Konsums und gewinnt so ihr Lebensmaterial mehr im Austausche mit der Natur als im Verkehr mit der Ge- sellschaft. Die Parzelle, der Bauer und die Familie; daneben eine andre Parzelle, ein andrer Bauer und eine andre Familie. Ein Schock davon macht ein Dorf, und ein Schock Dörfer macht ein Departement. So wird die große Masse der französischen Nation gebildet durch einfache Addition gleichnamiger Größen, wie etwa ein Sack von Kartoffeln einen Kartoffelsack bildet. 

Insofern Millionen von Familien unter ökonomischen Existenzbedingungen leben, die ihre Lebensweise, ihre Interessen und ihre Bildung, von denen der andern Klassen trennen und ihnen feindlich gegenüberstellen, bil- den sie eine Klasse. Insofern ein nur lokaler Zusammenhang unter den Parzellenbauern besteht, die Dieselbig- keit ihrer Interessen keine Gemeinsamkeit, keine nationale Verbindung und keine politische Organisation unter ihnen erzeugt, bilden sie keine Klasse. Sie sind daher unfähig, ihr Klasseninteresse im eigenen Namen, sei es durch ein Parlament, sei es durch einen Konvent geltend zu machen. Sie können sich nicht vertreten, sie müs- sen vertreten werden. Ihr Vertreter muß zugleich als ihr Herr, als eine Autorität über ihnen erscheinen, als eine unumschränkte Regierungs-/gewalt, die sie vor den andern Klassen beschützt und ihnen von oben Regen und Sonnenschein schickt. Der politische Einfluß der Parzellenbauern findet also darin seinen letzten Ausdruck, daß die Exekutivgewalt sich die Gesellschaft unterordnet.
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Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, MEW 8, VII. Kapitel; Berlin (O) 1960, S. 197f.


Nota. - Das war die Elementaraufgabe der französischen Revolution gewesen: der aufkommenden Industrie einen inneren Markt zu schaffen, der sie nach außen instand setzte, gegen die Engländer zu konkurrieren; Napoleons Kontinentalsperre hat ihn besiegelt. Der innere Markt, das war ein Ozean von landwirtschaftlichen Kleinunternehmern, die nun nicht mehr Pächter bei einem feudalen Grundherrn, sondern selber Herren auf ihrer Scholle waren; selber Geld in die Hände bekamen, mit dem sie einheimische Produkte kaufen - und für das sie sich bei französischen Banken verschulden konnten.

Sie waren die Basis für Napoleons Siegeszug in Europa, und fortan entschied sich die innere Politik Frankreichs daran, welcher Partei es gelang, die ländliche Kleinbourgeoisie hinter sich zu sammeln.

Schaffung des inneren Marktes ist die Kernaufgabe einer jeden bürgerlichen Revolution. Die organische Unfä- higkeit der Bauernschaft, eine eigene Partei zu bilden, war hernach das Kernproblem aller bürgerlichen Revolu- tionen in den kolonialen und halbkolonialen Ländern und zwang die Revolution, permanent zu werden... oder eben zu scheitern.

Es ist nicht die "Borniertheit des Landlebens", das die Bauernschaft zu eigener gesellschaftspolitischer Identität unfähig macht. Es ist die Eigenheit ihrer Stellung zueinander im Unterschied zu den andern Klassen: die "Diesel- bigkeit ihrer Interessen", die jedoch "keine Gemeinsamkeit" erzeugt. Jede Parzelle hat im Prinzip dieselben In- teressen wie die Nachbarparzelle, aber ein jede nur für sich und im - fast alltäglichen - Streitfall gegen die andern. Wollten sie sich ihre eigenen Repräsentanten geben, würden sie immer nur den kleinsten gemeinsamen Nenner vertreten können; und alsbald von Neidern verdrängt werden. Vertreten werden müssen sie von einem väterli- chen Gönner, der keiner von ihnen ist, der über ihnen allen steht und es gut mit ihnen meint. Sie können selber keine Richtung vorgeben, sondern durch ihre Masse immer nur der einen oder andern Richtung den Ausschlag verschaffen. 

Diese zwei Jahrhunderte alte Vorgeschichte prägt die französische Innenpolitik bis heute.
JE


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