Mittwoch, 2. Mai 2018

MEGA.

David Rjasanow
aus Tagesspiegel.de, 1. 5. 2018

von Björn Rosen

...Von seinem kleinen Zimmer aus koordiniert Hubmann seit 1998 die Arbeit von Wissenschaftlern in der ganzen Welt. Sie untersuchen und veröffentlichen alle Texte, die Marx und sein Weggefährte Friedrich Engels je verfasst haben oder die mit ihrem Werk in Zusammenhang stehen. Wirklich alle. Hunderttau- sende beschriebene und bedruckte Seiten: Buchmanuskripte und Zeitungsartikel, Einträge in Enzyklopädi- en und Abschriften aus Chemiebüchern. Etwa 20 Forscher sind derzeit beteiligt, von Amsterdam bis Tokio, von Russland bis in die USA.

Marx korrespondierte mit 2000 Leuten

Die Marx-Engels-Gesamtausgabe, an der sie arbeiten, trägt die Abkürzung MEGA. Wie treffend. Die Wurzeln des Projekts reichen zurück bis in die 1920er Jahre. Dennoch sind erst 65 von derzeit 114 geplanten Bänden fertiggestellt und gedruckt worden, wobei jeweils ein „Apparat“ dazugehört, ein Buch, das die Entstehung der Texte detailliert beschreibt, bis hin zu einzelnen Kommata – das macht eine historisch-kritische Edition wie die MEGA aus. Schon jetzt füllen die Bände beinahe drei große Billyregale in Hubmanns Büro, neben Marx-Übersetzungen auf Englisch, Französisch, Griechisch, Russisch, Koreanisch. Der Mann aus Trier ist, ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des Staatssozialismus in Europa, ein internationaler Hit.

In 15 Jahren soll die Gesamtausgabe nun definitiv abgeschlossen sein. Um Kosten zu sparen, hat man entschieden, zumindest den Briefverkehr der Denker nur noch online zu veröffentlichen; allein Marx korrespondierte mit 2000 Leuten.

Die scheinbar unendliche Geschichte der MEGA ist auch eine des vergangenen Jahrhunderts. Sie spielt unter den Sozialdemokraten der Kaiserzeit und der Weimarer Republik, in Stalins Sowjetunion, in der DDR und schließlich in der globalisierten Welt der Gegenwart. Sie erzählt davon, wie Schriften derselben Philosophen zunächst subversiv wirken und dann die weltliche Bibel autoritärer Staaten werden konnten – und wie man sie jetzt, mit dem Blick von Philologen, möglichst unideologisch zu betrachten versucht. Und sie wirft eine große Frage auf: Was bleibt von Marx, 200 Jahre nach seiner Geburt?

Hubmann jedenfalls ist ein gefragter Mann in diesen Tagen. Im Mai eröffnet die neue Ausstellung in Marx’ Geburtshaus in Trier, an der seine Leute mitgewirkt haben. Eine Kollegin war gerade auf einer Konferenz zum Jubiläum in Moskau, er selbst fährt zu einer ähnlichen Veranstaltung nach Peking. Dabei versuchen sie eigentlich, Distanz zu China halten, wo momentan das allergrößte Interesse an der MEGA besteht. Vor der Akademie hielten schon Limousinen, kurz darauf saßen Vertreter wichtiger chinesischer Unis in Hubmanns Büro, sie hätten am liebsten gleich den ganzen Laden übernommen. Selbst Interviews oder die Mitarbeit von Chinesen blockt Hubmann meist ab: „Es gibt einfach zu viele Anfragen, würden wir darauf eingehen, wäre hier gar keine Arbeit mehr möglich.“

Viel Handwerk und ein wenig Detektivarbeit

Gegenüber von Hubmann hat sein Kollege Ulrich Pagel Platz genommen, der – stattlich und mit Vollbart – etwas vom jungen Marx hat. Nicht, dass das Absicht wäre. Bevor er als Mitarbeiter bei der MEGA anfing, war Pagels Gebiet eher die angelsächsische Philosophie des 20. Jahrhunderts. „Damals kannte ich vor allem den Marx, wie er mir von Marxisten präsentiert wurde. Das war einer, der immer recht hatte, und das fand ich unheimlich ermüdend.“ Heute sieht er das anders, aber die Distanz zu Marx hatte ihr Gutes. Manchmal haben sie Praktikanten, die sich sehr für den Denker begeistern. „Das birgt Frustrationspotenzial.“ Pagel lächelt. „Weil wir uns mit Fragen beschäftigen, die im Hinblick auf die Weltrevolution keinerlei Fortschritt bedeuten.“

Der Alltag besteht aus viel Handwerk und ein wenig Detektivarbeit. Man blicke auf eine beliebige Manuskriptseite aus dem Oeuvre von Marx und Engels. Sie ging im Laufe der Jahre und Jahrzehnte durch verschiedene Hände. Zuerst steht da zum Beispiel ein Text in Schönschrift. Der muss von Engels stammen, dem tüchtigen, wenn auch weniger genialen Bourgeois, der seinen Freund Karl samt Familie aushielt. Geht das Geschriebene auf eigene, auf gemeinsame Ideen zurück, oder hat ihm Karl bloß was in den Block diktiert? Hinweise gibt der Stil. „Das häufige Schicksal Marx’scher Texte ist es, dass sie mit wunderbaren, geschliffenen Formulierungen beginnen und es dann zerbröselt“, sagt Pagel. Apropos zerbröseln: Die Manuskripte wird irgendwann die verwendete Eisengallustinte auffressen, an anderen haben bereits Mäuse genagt, die von Rotweinflecken angelockt wurden. „Man hat auch schon mal ein Haar gefunden. Wenn man Marx klonen wollte, gäbe es also Chancen.“
 
Zurück zum Text. An den krakelt Marx im nächsten Schritt womöglich etwas mit Bleistift. 20 Jahre danach streicht er dann die Hälfte des Ganzen mit Tinte durch (impulsiver, vertikaler Strich mit breiter Feder, typisch Marx): Warum, muss man fragen, ergab die Passage für ihn im Lichte neuer Erkenntnisse keinen Sinn mehr? Und wieder ein halbes Jahrhundert später kommt vielleicht ein wackerer Sozialist auf die Idee, den getilgten Teil mit Auszügen aus anderen Werken zu kombinieren oder ihn tief im Archiv zu vergraben, weil ihm das darin Gesagte nicht passt.

[Nota. - Irrtum: Marx durchstrich einen Absatz vertikal, sobald er ihn in einem andern, druckreiferen Text weiterverarbeitet hatte. Er wollte sich nicht versehentlich wiederholen. JE]

Die Macher der MEGA dokumentieren peinlich genau alle Varianten eines Textes, die durch solche und andere Einflüsse entstehen. Und sie ziehen ihre Schlüsse daraus.

Nachlass. Die Forscher der MEGA analysieren Manuskriptseiten wie diese. Die vertikalen Streichungen stammen von Marx.

Vor Hubmann und Pagel liegt ein kürzlich erschienener Band der MEGA, an dem die beiden und eine Kollegin rund 15 Jahre lang gearbeitet haben. Er ist wie die ganze Reihe in dunklem Blau gehalten. 700 Seiten Text plus 1200 Seiten Apparat, insgesamt 3,2 Kilogramm, 219 Euro. Titel: „Manuskripte und Drucke zur Deutschen Ideologie“. Eine kleine Sensation. Denn die Forscher konnten bestätigen, dass eines der drei Hauptwerke (neben dem „Kommunistischen Manifest“ und dem „Kapital“) gar kein Buchprojekt von Marx und Engels war. Im Staatssozialismus galt die „Deutsche Ideologie“ als philosophisches Grundgebäude des Marximus, „ein in sich stimmiges, gegen Kritik abgeschlossenes System“. Nun wird klar: Es handelt sich dabei um eine Kompilation von Texten der beiden Denker durch Dritte.

Schon Ende der 70er Jahre hatte eine russische Wissenschaftlerin diese Vermutung geäußert, außerhalb der Fachkreise wurde sie jedoch kaum wahrgenommen. „Im Sozialismus hat man das als eine Hypothese behandelt – und immer dagegen angeschrieben“, sagt Hubmann. Was an Marx als Monolith rührte, war nicht erwünscht.

Der paranoide Sowjetführer Stalin fürchtete das Werk des deutschen Philosophen sogar.

21. Januar 1938, ein Donnerstag. In Saratow an der Wolga, 800 Kilometer südöstlich von Moskau gelegen, wird ein 67-jähriger Mann hingerichtet. Zeitgenossen beschreiben ihn als Persönlichkeit von seltener Willensstärke. Er ist beleibt, hat einen dichten weißen Schnurrbart und ein stürmisches Temperament. Nach nur 15-minütiger Verhandlung hatte ein Militärgericht David Rjasanow der Verbindung zu einer imaginären „antisowjetischen, rechtstrotzkistischen Organisation“ für schuldig befunden. Der wahre Grund für das Todesurteil dürfte ein anderer gewesen sein. Rjasanow, Vater der ersten MEGA, kannte seinen Marx in- und auswendig und wollte dessen gesamtes Werk veröffentlichen, nicht bloß eine vom und für den Staat zurechtgestutzte Version. Marx, der Widersprüchliche, Aufmüpfige, einer, der Gegner mit beißendem Spott überzog – dieser Denker kann Stalin nicht gefallen.

Sozialdemokraten träumen mit Marx von der Revolution

Es ist die Zeit des „Großen Terrors“, und mit Rjasanow, der seit Jahren nach Saratow verbannt war, stirbt einer der letzten kritischen Intellektuellen aus dem Führungskreis der Bolschewiki. Überall in der Sowjetunion werden seine Arbeiten nun aus den Bibliotheken entfernt. Wenige Tage vor seiner Erschießung sind Sicherheitskräfte in sein Haus eingedrungen, das Mobiliar haben sie auf einen Lastwagen verladen, viele Bücher aus dem Arbeitszimmer dagegen ins Feuer des großen Heizofens geworfen. Dort landet auch ein Foto vom Schreibtisch. Es zeigt den jungen Engels. Ein Geschenk von Karl Marx’ Tochter, versehen mit einer Widmung.

Rjasanow, der aus einer jüdischen Familie in Odessa stammt, war seit jungen Jahren nicht nur überzeugter Linker, sondern auch ein besessener Jäger des Nachlasses von Marx und Engels.

Als Karl Marx 1883 stirbt, geht, was er an Manuskripten hinterlässt, an den Gefährten Engels, der ihn um 14 Jahre überleben wird. Darunter befinden sich nicht zuletzt die Fragmente für die Fortführung seines großen Werks „Das Kapital“, eine Analyse und Kritik der kapitalistischen Gesellschaft, von der zu seinen Lebzeiten nur ein erster Band erschienen ist. Der Linken gilt Marx schon damals als ihr bedeutendster Vordenker, nicht nur in Deutschland. Die Industrialisierung verändert die Gesellschaft drastisch, in Berlin und anderen Städten schuften Arbeiter in Fabriken und hausen zusammengepfercht in Mietskasernen. Politisch sind die Umwälzungen ähnlich groß. Inzwischen wurden Parteien gegründet, im 1871 entstandenen deutschen Kaiserreich gibt es auch ein Parlament, das allerdings nicht viel zu sagen hat. Die junge Sozialdemokratie träumt damals mit Marx noch mehrheitlich von der Revolution. Wegen ihrer „gemeingefährlichen Bestrebungen“, so heißt es offiziell, bekämpft sie Bismarcks Staat viele Jahre lang. Als 1895 auch Engels stirbt, gehen große Teile vom gemeinsamen Nachlass an das Archiv der SPD. 

Überall kopiert und kauft er Dokumente

David Rjasanow darf kurz darauf erstmals einen Blick auf die Manuskripte der zwei und auf die Bücher aus ihrem Besitz werfen. Die Aufbewahrung findet er schlampig, so deutet er später in einem Brief an: „Ich erinnere mich ganz wohl, diese Bibliothek noch im Jahre 1900 im ungeordneten Zustande in einigen Zimmern in Berlin herumliegen gesehen zu haben.“ In den Jahren darauf macht er es sich zur Aufgabe, bereits vorhandene Papiere zu ordnen und durchzuarbeiten und weitere aufzuspüren. Er konnte, schreibt ein Zeitgenosse, „wegen eines Kommas in einem Manuskript von Marx vierter Klasse und im ungeheizten Eisenbahnwagen mitten in der Nacht von Wien nach London reisen“.

Nach der Oktoberrevolution 1917 artet die Begeisterung in Sammelwut aus. In Moskau entsteht ein Marx-Engels-Institut mit Rjasanow an der Spitze, üppig ausgestattet mit Räumen, Mitarbeitern und Geld. Lenin persönlich hat das verfügt. In einem Schreiben fragt der Revolutionsführer, ob man Briefe von Engels oder Fotokopien davon nicht bei „Scheidemann und Co.“ (er meint den deutschen Sozialdemokraten Philipp Scheidemann) erstehen könne: „Das ist doch so eine käufliche Bande.“ Rjasanow darf tatsächlich zu einer veritablen Shoppingtour starten. Für sein Institut übernimmt er ganze Bibliotheken und Privatsammlungen aus verschiedenen Ländern und damit Zehntausende Bücher, Flugblätter und Zeitungen, die mit der Geschichte der Arbeiterbewegung zusammenhängen. Ob im SPD-Archiv, bei der Familie Engels oder im Archiv der Uni Jena, an der Marx promoviert hat: Überall kopiert und kauft er Dokumente. (Anno 2018 sind es Chinesen, die solchem Material weltweit hinterherjagen und viel Geld dafür bieten.)

Die Idee einer Gesamtausgabe muss Rjasanow schon lange mit sich herumgetragen haben. Auch in der SPD kursiert sie seit Jahrzehnten. Als die Sozialdemokraten – Deutschland ist inzwischen zur Republik geworden, und die Partei stellt deren ersten Präsidenten – Mitte der 20er Jahre beschließen, eine solche Ausgabe auf den Weg zu bringen, haben in Moskau längst die Vorbereitungen begonnen. Da Kommunisten und Sozialdemokraten sich immer stärker entzweien, kommt es zu keiner wirklichen Zusammenarbeit. Die Sowjets kooperieren mit dem Frankfurter Institut für Sozialforschung (bekannt als Wirkungsstätte von Horkheimer und Adorno), dort erscheint 1927 der erste Band der ersten MEGA.

Marx-Engels-Gesamtausgabe in der Akademie der Wissenschaften in Berlin Mitte.
Marx-Engels-Gesamtausgabe in der Akademie der Wissenschaften in Berlin Mitte
Rjasanow wird schon 1931 verhaftet und in die Verbannung geschickt. Wie er werden zahlreiche Mitarbeiter der MEGA exekutiert. Insgesamt erscheinen ein Dutzend Bände der Gesamtausgabe, bis Stalin das Projekt stoppen lässt.

Als in Deutschland die Nazis an die Macht kommen, fürchten die Sozialdemokraten um den Marx-Engels-Nachlass. Ein Angebot zur Übernahme aus Moskau schlägt die SPD aus, stattdessen gibt sie die Unterlagen ans Institut für Sozialgeschichte nach Amsterdam, dorthin gelangen sie auf zum Teil abenteuerlichen Wegen, unter anderem verschifft auf Kähnen. Bis heute befinden sich zwei Drittel des Materials in der niederländischen Metropole. Ein Drittel lagert jetzt in Moskau, bombensicher, acht Stockwerke tief in einem Keller. Es handelt sich vor allem um Briefe, manchmal ist nicht ganz klar, wie die Dokumente nach Russland gekommen sind.

Fast drei Jahrzehnte gerät das MEGA-Projekt in Vergessenheit. In den 50er Jahren beginnt das Institut für Marxismus-Leninismus, wie Rjasanows einstige Wirkungsstätte im Norden Moskaus nun heißt, stattdessen mit der „Sotschinenija“. Sie ist eine Studienausgabe der Werke von Marx und Engels. Weder historisch-kritisch ediert noch umfassend, aber trotzdem 44 Bände stark. Die „Sotschinenija“ bildet die Grundlage für die Marx-Engels-Werke, die in der DDR erscheinen. Spitzname der Reihe: die blauen Bände. Die Bücher stehen trotz der deutschen Teilung auch in vielen Regalen im Westen, ob tatsächlich gelesen oder eher zur Dekoration. Nicht bloß, weil Marx in den 60er und 70er Jahren wieder schwer in Mode ist, zumal unter Studenten. Sondern auch, weil die Bücher eine gute Möglichkeit darstellen, das DDR-Geld, in das man seine D-Mark bei einem Besuch „drüben“ zwangsweise umtauschen muss, sinnvoll auszugeben.

Nach Stalins Tod wird das einstige Urteil gegen David Rjasanow 1958 als unrechtmäßig anerkannt, und dessen alter Traum lebt erneut auf. Doch die Entstalinisierung ist ein langsamer Prozess, und so stößt die Wiederaufnahme der MEGA anfangs auf Widerstand. „Eine historisch-kritische Gesamtausgabe, die sei überhaupt nicht möglich. Denn Kritik an Marx und Engels, das könne nicht sein! So habe ich das damals wörtlich von jemandem aus dem Zentralkomitee der KPdSU gehört“, erzählt Martin Hundt.

Der 85-Jährige hat die zweite MEGA praktisch vom ersten Tag an begleitet, sein Verantwortungsbereich war die Abteilung III: Briefwechsel, und er hat sie später mit „über die Wende gebracht“, wie er sagt. Ein Leben mit Marx und Engels, vier Jahrzehnte lang, eigentlich bis heute.

1989 drohte der MEGA schon wieder das Aus

Hundt steht im Arbeitszimmer seines Häuschens in der Nähe von Potsdam, die Havel ist nicht weit, in den Regalen die blauen Bände, die MEGA und eine Reihe Heinrich Heine. Er entschuldigt sich, er habe noch mit den Folgen eines Sturzes zu kämpfen, normalerweise sei er schlagfertiger, „ein frecher Bengel – außer wenn ich Marx gegenübersäße, da wäre ich eingeschüchtert“.

Hundt hat einst Publizistik studiert, war vor seinen MEGA-Jahren Journalist und ab 1981 Professor für Geschichte der Arbeiterbewegung. Eine DDR-Karriere aus dem Bilderbuch. Trotzdem verteidigt er „die sozialistische Konstruktion“, wie er es ausdrückt, nicht. Woran er indes festhält: Wer immer an deren Zusammenbruch Schuld trägt, Marx war es nicht. Warum ist der Staatssozialismus dann gescheitert? „Weil die Halunken nicht auf ihn gehört haben. Weil Stalin alles pervertiert hat und es danach kein Zurück mehr gab.“

Die MEGA musste selbst in der eingemauerten DDR eine internationale Angelegenheit sein. Dienstreisen gehörten von Anfang an dazu, ins Archiv nach Amsterdam, wo Hundt sich mit einem Forscher aus Frankreich anfreundete, und nach Moskau sowieso. Gleich beim ersten Trip dorthin empfing ihn seine Kollegin Irina aus Wladiwostok. Wenig später wurde sie seine Frau.

Dann, plötzlich, drohte der MEGA schon wieder das Aus, dieses Mal unter ganz anderen Vorzeichen. 1989, die Mauer fällt, der Ostblock bricht zusammen. Die kommunistische Ideologie scheint für immer kompromittiert, Institute für Marxismus-Leninismus wird es bald nicht mehr geben. Martin Hundt denkt dennoch gern an eine Episode aus dieser Zeit zurück, schließlich endete alles halbwegs versöhnlich. Da war der Tag, an dem er in seinem Auto nach Aix-en-Provence fuhr, sein französischer Freund Jacques hatte geholfen, ein Treffen zu organisieren. Die Russen waren auch dort und internationale Experten für historisch-kritische Ausgaben. Gemeinsam diskutierte man in der Sonne Südfrankreichs, wie sich das Projekt retten ließe. Das Glück der MEGA war, dass man in den 60er Jahren nicht einfach Rjasanows Arbeit fortgeführt hatte, sondern von vorne begann, nach dem damals neuesten Stand der Forschung. Sieht man von einigen ideologischen Formulierungen ab, entsprach die Gesamtausgabe westlichen Standards. Deshalb konnte es weitergehen, wenn auch in viel kleinerem Rahmen. Statt Personal im dreistelligen Bereich gab es nur noch Werkverträge für ein paar Leute. 

„Die Ostler kennen jeden Buchstaben“

1990 wurde die Internationale Marx-Engels-Stiftung gegründet. Ein beratendes Netzwerk mit Sitz in Amsterdam, dessen Vorsitz der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler innehat. Unter dem Dach der Stiftung kommen Institutionen aus verschiedenen Ländern zusammen. Etwa das Marx-Haus in Trier, das Russische Staatsarchiv für Politik- und Sozialgeschichte und eben die Berlin-Brandenburgische Akademie. Am Gendarmenmarkt wird nicht nur alles koordiniert, hier muss auch das Geld für die Forschung beschafft werden.

Was zurück zu Gerald Hubmann führt. Der letzte Neuantrag und der damit verbundene Papierkram haben ihn einige Nerven gekostet. „Drei Jahre hat das gedauert, es war ein Kampf.“ In den Nachwendejahren machte noch der konservative Münchner Politikwissenschaftler Konrad Löw Front gegen die MEGA. Marx und Engels seien Terrorpaten und ihr Werk nicht bedeutend genug, argumentierte er. Die Debatte ist lang vergessen. Für Hubmann sind die beiden Denker Klassiker, so wie Leibniz und Kant, und die hätten schließlich auch ihre historisch-kritische Ausgabe. Außerdem wurde die MEGA seit Anfang der 90er Jahre konsequent entpolitisiert. „Es gibt hier auch Marxisten, aber an Marx zu glauben, ist keine Qualifikation für eine Mitarbeit.“ Worauf man noch Wert legt, ist ein ausgeglichenes Verhältnis von Ost- und Westdeutschen. Hubmann, der aus dem Westen stammt, findet das befruchtend: „Die Ostler kennen jeden Buchstaben, jeden Brief, vorwärts, rückwärts. Wir haben stattdessen eher einen Blick dafür, welche Gedanken vielleicht gar nicht exklusiv von Marx stammen.“



Karl Marx (1818–1883) war zusammen mit seinem Weggefährten Friedrich Engels der einflussreichste Theoretiker von Sozialismus und Kommunismus.
Ansonsten prägt das Projekt, stärker als je zuvor in seiner Geschichte, das Internationale. Forscher alle Länder, vereinigt euch! Zum Beispiel Kenji Mori von der Tohoku-Universität im japanischen Sendai. An vier Bänden war der 56-Jährige schon beteiligt. Alles begann damit, dass er nach dem Grundstudium vor einem Dilemma stand. Sollte er Volkswirtschaft studieren oder seiner Liebe zur deutschen Kultur folgen und Germanistik wählen? Er entschied sich für Ökonomie, aber beschäftigte sich immerhin mit einem Deutschen, Karl Marx. Die offizielle Sprache der MEGA ist Deutsch, das sei für Ausländer die große Herausforderung, sagt Mori. „Marx’ Deutsch wiederum ist recht gut zu verstehen. Bloß seine Handschrift kann ich nach all den Jahren noch immer nicht entziffern.“ Die Zusammenarbeit über Grenzen hinweg liege bei dem Thema besonders nahe. „Marx war ja selber ziemlich international.“ Französisch war quasi seine zweite Muttersprache, London sein langjähriges Exil, die „New York Daily Tribune“ sein Arbeitgeber, die Vereinigung aller Proletarier seine Vision.Und was bleibt nun von ihm, den man in aller Welt kennt?

Den Mann interessierte eigentlich alles

Für Martin Hundt ist es eine bestimmte Geisteshaltung: „Immer weiter forschen, sich nicht festlegen, keine Dogmen akzeptieren.“ Hoffnungsvolle Ansätze für einen besseren Sozialismus sieht er, der selbsterklärte Marxist, derzeit nirgends. Zuletzt hat er sich aufgeregt über die neue Marx-Statue in Trier, ein Geschenk aus Peking. „Entschuldigen Sie bitte meine Ausdrucksweise“, sagt er, „aber die Chinesen kotzen mich an.“ Die Riesenfigur folge der Idee, „wenn es ein Meter mehr ist, dann ist die Verehrung umso größer. So ein Denken war Marx völlig fremd.“

Kenji Mori findet es erstaunlich, dass ebenjene ökonomische Entwicklung, die man zurzeit in allen kapitalistischen Ländern beobachten kann – zunehmende Automatisierung bei gleichzeitig sehr niedrigen Zinsen – schon prophetisch von Marx im Zusammenhang beschrieben wurde.

Und Gerald Hubmann ist über seine Arbeit zwar nicht zum Gläubigen geworden, „aber mein Respekt für Marx ist gewachsen. Weil mir klar wurde: Was der alles gemacht hat, diese ungeheuren Studien, diese Breite, diese Akribie!“ Hubmann zeigt eine Seite aus einem geologischen Exzerpt von Marx. Den Mann interessierte eigentlich alles. Tagelang konnte er in der Bibliothek sitzen und Abbildungen von Gesteinsschichten und Fossilien mit Zigarettenpapier abpausen. Wie in einem Sog.


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